Beerensommer
bissig zu Fritz. Aber der zieht sie weiter auf, redet von »notwendiger Umerziehung« und der »Überlegenheit der Schwaben über andere Stämme« und lauter solchen Quatsch. Trotzdem muss sie lachen und kann sich eine Bemerkung über den komischen Dialekt der Schwaben nicht verkneifen.
»Das musst du als Berlinerin gerade sagen!«, spottet Fritz. Nichts davon erreicht die alte Gretl, die immer mehr in sich zusammenzusinken scheint.
Endlich sind sie oben: Eine Schranke und ein kleines Schild zeigen an, dass es sich ab jetzt um Privatbesitz handelt. Sie fahren einen holprigen Weg entlang und der schwere Wagen ruckelt und zuckelt, dass sie von einer Seite zur anderen geworfen werden.
Anna schaut immer wieder besorgt zu Gretl, aber die hält sich an ihrem Sitz fest, allerdings ist sie ein bisschen blässer als vorher und die Lippen zeigen einen leicht bläulichen Schimmer. Dann kommen sie an einer Waldhütte an, die aus ungehobelten dicken Baumstämmen gebaut ist. Sternförmig gehen vier Wege von hier ab, drei führen in verschiedenen Richtungen bergauf, aber der, auf dem sie gekommen sind, führt bergab.
»So, meine Damen, das letzte Stück müssen wir zu Fuß gehen. Unser Ziel ist die Auwiese, das ist hier gerade um die Ecke. Einverstanden, Gretl?« Die nickt nur und packt energisch Fritz’ Arm.
»Gott sei Dank hat es die letzten Tage nicht geregnet, sodass alles einigermaßen trocken ist. Ansonsten würden die Berliner Schühchen ein bisschen schmutzig«, grinst er verschmitzt zu Anna herüber.
Affe!, denkt Anna nur, guckt aber unwillkürlich an sich herunter. Die »Berliner Schühchen« sind immerhin ganz bequeme Sneakers, allerdings aus hellem Leder. Aber wenigstens hat sie keine hohen Absätze oder Riemchensandalen oder so etwas an den Füßen. Links und rechts vom Waldweg sieht man immer wieder tiefe Kuhlen.
»Wildschweine«, sagt Fritz und deutet auf einige besonders tiefe Löcher. »Die haben unheimlich zugenommen in den letzten Jahren. Wir haben hier oben einige Jagden verpachtet, um die Schwarzkittel zahlenmäßig einigermaßen unter Kontrolle zu halten.«
Der redet wie ein altadeliger Großgrundbesitzer, denkt Anna spöttisch und will eine spitze Bemerkung machen, aber dann verschlägt es ihr die Sprache, denn der hohe Fichtenwald hat sich auf einmal geöffnet und der Blick, der sich vor ihr auftut, ist wirklich atemberaubend! Sie sind auf der Hochfläche, was ihr zuerst gar nicht klar war, und sanft geschwungene Berghöhen breiten sich scheinbar endlos vor ihnen aus, um irgendwann im schimmernden hellen Blau des Horizonts aufzugehen. Wie von dunkelgrünem Samt überzogen sind die Bergrücken, mit kleineren lindgrünen Einsprengseln, und die am nächsten gelegenen Hänge ergänzen dieses Muster mit unregelmäßig gerundeten Flächen, deren zarteres Grün immer wieder vom Rot des Sandsteinbodens durchbrochen wird. Anna ist überwältigt.
»Ganz hinten am Horizont fließt der Rhein und an klaren Tagen kann man ihn sogar erkennen. Dort hinten liegen Baden-Baden und Straßburg, und das da«, er zeigt auf einen im Dunst verschwimmenden Gipfel, »ist die Spitze der Hornisgrinde.« Dann nennt er noch die Namen einiger Berge, die Anna nichts sagen.
»Und diese kahlen Flecken da ...«, er deutet auf die wie eingestanzt wirkenden rötlichen Flecken, »das war der Tornado von 1986. Fast ein Drittel unserer Wälder ist ihm zum Opfer gefallen. Die Wiederaufforstung hat einiges gekostet und Vater war nahe daran, zu verkaufen. Aber es war der ausdrückliche Wunsch meiner Urgroßmutter, die verbliebenen Wälder und vor allem die Gemarkung Katzenbuckel immer als Familienbesitz zu halten. Und ihr Wunsch war und ist Gesetz – auch wenn sie schon einige Jährchen nicht mehr lebt.« Er grinst plötzlich. »Vater hat immer noch höllischen Respekt vor ihr! Wahrscheinlich fürchtet er, sie würde ihn als Geist heimsuchen und ihm schreckliche Albträume bereiten. Zuzutrauen wär’s ihr ja. Sie war immer eine sehr energische Dame. Genauso wie ihr großer Bruder, der legendäre Onkel Friedrich.«
Anna ist verwirrt. Von wem spricht Fritz? Urgroßmutter ... großer Bruder ...?
Als ob sie Gedanken lesen könnte, sagt Gretl auf einmal: »Er spricht von der Emma, der kleinen Schwester von Friedrich. Der Junge hat schon recht. Sie hat immer gewusst, was sie will.«
Die kleine Emma, das Mädchen, das nach Milch gebrüllt hat, am ersten Morgen in der Stadtmühle! Das also ist die Urgroßmutter, vor der sich alle noch ein
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