Beerensommer
Verwandtschaft unterzukommen. Vater und Mutter lebten ja nicht mehr. Doch die wollte mit ›so einer‹ nichts zu tun haben, der saubere Herr aus Stuttgart hat schon dafür gesorgt, dass alles bekannt wurde, und ein Zeugnis hat er ihr auch keins gegeben. An eine neue Stelle war also nicht zu denken. Deshalb ist sie in der Stadtmühle untergekrochen, bei einem Bruder ihres Großvaters, der halb schwachsinnig war. Er ist kurz darauf gestorben und sie durfte das Zimmer behalten. Vielleicht gehörte der Herr Bürgermeister auch zu ihren Kunden, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat es da angefangen mit den ›Kavalieren‹, von irgendetwas musste sie ja leben.«
Herausfordernd schaut die alte Frau plötzlich Anna und Fritz an. Die Augen schwimmen nicht mehr in Tränen, sie blitzen geradezu und die kleine gebückte Gestalt richtet sich etwas auf. »Und eines sage ich euch: Ich bin stolz auf meine Mutter – von diesem Moment an war ich stolz auf sie!«
Statt einer Antwort steht Fritz auf und nimmt sie in den Arm. Anna greift nach ihrer Hand und drückt sie fest. Fritz soll bloß nicht denken, er habe einen Alleinvertretungsanspruch! Das ist auch meine Geschichte, denkt Anna. Gretl und ihre Erinnerungen gehören genauso gut mir.
» ... und das kannst du auch«, sagt Fritz gerade.
So ein Schleimer! Aber er hat recht. Anna versucht sie sich vorzustellen, die Magdalena Haag. Sie hat dieses kümmerliche Leben gemeistert, auf ihre Art, und hat ihr Kind aufgezogen zu einem ordentlichen Menschen.
»Und dein Vater?«, hört sie sich plötzlich fragen.
»Meine Mutter hat es einfach nicht gewusst«, sagt Gretl ganz heiter. »Einfach nicht gewusst. Damals gab es keine Untersuchungen wie heute – und Unterhalt? Ach, du liebe Güte! Vom wem denn? Bei den vielen Männern. Sie hat gemeint, ich sehe einem der Kavaliere ähnlich, einem recht angesehenen Herrn aus dem Dorf, aber irgendwann hat es mich einfach nicht mehr gekümmert. Ich hatte keinen Vater, basta. Ich hatte meine Mutter und Friedrich und Johannes!«
Energisch zieht sie sich an Fritz’ Arm hoch. »So, und jetzt gehen wir hinüber, ich will sehen, wie die Beeren stehen.« Aber dann hält sie doch noch einen Moment inne. »Dort drüben haben sie ihn gefunden.« Sie deutet mit dem Kopf auf eine etwas erhöhte Stelle, an der ein besonders großer Findling emporragt.
»Dort oben hat er oft gesessen. Früher hat er da auch gemalt. Man hat einen wunderbaren Blick von oben.«
Unwillkürlich macht Anna ein paar Schritte auf diese Stelle zu. Hier ist er also gestorben! Plötzlich weiß sie auch, was sie die ganze Zeit noch fragen wollte – die Bilder! Und es ist unheimlich, wieder kommt ihr Gretl zuvor: »Heute Abend, wenn wir zu Richard und Christine gehen, kannst du ein paar von den Bildern sehen. Es sind die einzigen, die übrig geblieben sind. Ein paar wenige, die er Friedrich geschenkt hat, und die Bilder aus dem Besitz von Caspars. Alle anderen hat er verbrannt! Bleib ruhig ein Weilchen hier. Ich gehe mit dem Jungen ein Stückchen hinüber. Muss wissen, wie die Heidelbeeren stehen.«
Plötzlich ist Anna allein. Das heißt, sie fühlt sich allein gelassen, denn Gretl steht, gestützt auf den Arm von Fritz, nur wenige Meter von ihr entfernt zwischen den Heidelbeerbüschen. Langsam geht Anna auf den Felsbrocken zu. Hier hat er also gesessen, hier hat er zum letzten Mal diese Luft geatmet, die, würzig und schwer, schon etwas vom Sommer ahnen lässt. Was hat er wohl gedacht, kurz bevor er starb? Anna hat einmal gelesen, dass bei Ertrinkenden das ganze Leben wie in einem Film, der nur Sekundenbruchteile währt, noch einmal vorüberzieht.
Sie setzt sich behutsam auf die Stelle, wo vermutlich ihr Urgroßvater gesessen hat, als er starb. Sah er noch einmal die Kinder, Beeren pflückend drüben bei den Heidelbeeren? Sah er sie im Bach waten, Dämme bauen und Guste einen Kranz aus Dotterblumen flechten? Oder sah er etwas ganz anderes, sah er Krieg und Tod? Vielleicht sah er die Bilder, die er gemalt hat, sah sie einfach noch einmal alle vor sich? Diese Bilder, die fast alle verschwunden sind, zerstört von ihm selbst. Bis auf einige wenige, die sie heute Abend sehen wird, und bis auf das eine, das sie kennt, das Emaillebild auf der Schatulle mit dem Taugenichts. Oder hat er mit den letzten bewussten Blicken versucht im Buch zu lesen, in der Novelle vom Taugenichts, diesem Traum vom guten, vom richtigen Leben?
11
Der Sommer war vorüber, es war ein außergewöhnlich heißer
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