Beerensommer
Sommer gewesen und auch die Beerenernte war außergewöhnlich gut gewesen. Prall und saftig hatten die Heidelbeeren an den Büschen gehangen, große Beeren, für die man dem Koch im Badhotel sogar fünfundzwanzig Pfennige für das Pfund abschwatzen konnte. Und auch die Himbeerernte war besonders gut, süß und aromatisch waren die Früchte in diesem Jahr. Und am Tag nach der letzten Ernte konnten die Stadtmühlenkinder wundervolle, mit Sahne verzierte Himbeertorten im Schaufenster vom Bäcker Wirtz bewundern. Torten, die er speziell für die Kurgäste bereithielt. Die Mühlbeck-Buben drückten sich jedes Mal die Nasen platt an der Schaufensterscheibe und starrten verlangend nach der roten und weißen Herrlichkeit auf der anderen Seite, die für sie unerreichbar war. Weil aber die Ernte besonders gut ausgefallen war, hatte Johannes beschlossen, dass sich jedes Kind heute ein Zehnereis leisten könne. So saßen sie also am Tag, als der letzte Korb mit Himbeeren abgeliefert war, vor der Wirtz’schen Bäckerei und schleckten hingebungsvoll ihr Eis, auch Mühlbecks Ernst, der Kleinste, der auf seinen kurzen krummen Beinchen schon tapfer hinterhertrottete und fleißig mitzupfte. Die kleine Gretl lag im jetzt leeren Korb, das müde Gesichtchen gegen die geballte Faust gedrückt, sorgsam bewacht von Guste, die immer wieder die lästigen Fliegen wegscheuchte.
»Wenn es jetzt noch ein paar Tage schön bleibt, werden auch die Brombeeren gut«, meinte Johannes optimistisch. Dann kann ich mir endlich bessere Stifte kaufen, fügte er im Stillen für sich hinzu. Er hatte öfter ein paar Pfennige abgezwackt. Den Rest hatte er wie immer getreulich an die Ahne weitergegeben und so hatte es im Sommer sogar hin und wieder zu einem kleinen Topf Griebenschmalz gereicht. Auch Friedrich hatte etwas Geld beiseite geschafft, das wusste Johannes. Er hatte es ihm eines Nachmittags anvertraut, als sie zu einer kurzen Rast hinunter an den Bach gegangen waren und die Füße in das kühle klare Wasser gehängt hatten. Ein schlechtes Gewissen habe er deswegen, hatte er Johannes gestanden, weil er nicht alles Geld der Mutter abliefere. Johannes hatte ihn beruhigt.
»Deine Mutter hat sicher nichts dagegen. Du schmeißt es doch nicht zum Fenster hinaus, sondern sparst es.«
Wofür Friedrich sparte, wusste Johannes, ohne dass es ihm der Freund sagen musste. Er bemerkte jedes Mal die sehnsüchtigen Blicke, die die Auslagen des Schuhmachermeisters Schultheiß streiften. Für Schuhe sparte Friedrich. Gute, feste Schuhe.
Daran musste Johannes jetzt denken, als er vorsichtig und langsam sein Eis schleckte, um möglichst lange diesen süßen, sahnigen Geschmack auf der Zunge zu spüren. Zu langsam durfte man aber auch nicht sein, sonst lief die Kostbarkeit in kleinen Rinnsalen das Waffelhörnchen hinunter und tropfte auf die sonnenverbrannten Finger, wie beim kleinen Ernst, der mit dem ungewohnten Genuss einfach nicht zurechtkam. Prompt begann er auch laut loszuheulen und mühte sich zwischen den Schluchzern, so schnell es ging die Ränder der Kugel abzulecken, um noch den kleinsten Tropfen aufzufangen.
»Zu blöd zum Eisessen«, meinte der große Bruder Ludwig kopfschüttelnd, der gerade die letzten Teile des Hörnchens hinter den Zähnen verschwinden ließ. Einträchtig machten sich die Kinder nach diesem seltenen Genuss auf zum Oberdorf, am Ufer der kleinen Enz entlang, die träge und brackig durch die Kiesel hindurchfloss. Einige Enten badeten im Wasser. Guste und die Mühlbeck-Buben blieben etwas zurück, um die Tiere zu beobachten. Johannes, der einige Male zurückgeblickt hatte, beschleunigte seine Schritte. Er musste Friedrich etwas anvertrauen, was ihm schon seit Tagen auf der Seele lag: »Du, Fritz, ich muss dir was sagen! Also, vor ein paar Tagen hat die Ahne doch bei der Frau Ensslin gewaschen. Ich bin am Nachmittag hingegangen, um die Körbe mit der Wäsche von der Waschküche nach oben zu tragen. Die Ahne kann ja fast nichts mehr heben und die Frau Ensslin wohnt im obersten Stock.«
»Ja, und?« Fragend blickte Friedrich den Freund an. Er hatte ihn doch begleitet, damals, auf dem Weg zum Ensslin’schen Haus. Seit der Schlägerei mit den Gymnasiasten war es zu einer Rollenverteilung gekommen, über die nie gesprochen, die aber stillschweigend praktiziert wurde. Friedrich fühlte sich als Beschützer von Johannes und hatte ein wachsames Auge auf ihn und Johannes genoss dieses neue Gefühl, ohne dass er es sich richtig eingestanden hätte.
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