Beerensommer
bisschen fürchten! Johannes scheint sie sehr gern gehabt zu haben, nach allem, was sie bisher gelesen hat. Trotzdem ist Anna immer noch nicht klar, wie alles zusammenhängt. Misstrauisch und ein wenig vorwurfsvoll schaut sie Fritz an, als sei er schuld an ihrer Verwirrung. Er sieht überhaupt nicht aus wie einer, der hier aus der Gegend kommt, denkt sie und ertappt sich bei dem Gedanken, dass er so ziemlich der bestaussehende Mann ist, den sie kennt. Verlegen schaut sie zu Boden.
»Und das alles gehört zum Katzenbuckel?«, fragt sie schnell und macht eine weit ausholende Geste.
»Nicht alles«, antwortet Fritz grinsend.
Wahrscheinlich kann er Gedanken lesen, wahrscheinlich gefällt es ihm, dass ich so richtig durcheinander bin, denkt Anna.
»Nicht alles, was du siehst. Die Gemarkung umfasst ziemlich genau zwanzig Hektar. Das ist ganz schön viel. War kein unerheblicher Teil der Dederer-Mitgift, nicht wahr, Gretl?«
Die nickt zustimmend und hängt sich dann wieder bei Fritz ein.
»Obwohl Urgroßmutter Emmas Erbe mehr Last denn Lust ist heutzutage. Aber wir wollen jetzt nicht weiter mäkeln. Komm, wir gehen ein Stück hinunter zu Auwiese. Das war immer ihr Lieblingsplatz«, und er deutet mit dem Kopf auf die ungeduldig vorwärts strebende Gretl.
Rechts von ihnen breitet sich eine große Wiese aus, durch die sich ein kleiner Bach schlängelt. An seinem Ufer stehen einige wilde Kirschbäume, die jetzt gerade blühen. Die Wiese selbst ist gelb und grün überhaucht mit Schafgarbe, Hahnenfuß und Wiesenschaumkraut. Schräg gegenüber, wo sich der Bach im Dunkel des Fichtenwaldes verliert, erhebt sich ein Hochsitz. Auf der anderen, etwas höher gelegenen Seite zieht sich eine weite Fläche mit niedrigen grünen Heidelbeerbüschen hin, dazwischen ragen große rötliche Felsbrocken empor. Um diese Findlinge herum und auch am Weg, der nach links auf den Bergrücken in die Weiten der Wälder führt, rankt sich wildes Beerengestrüpp. Das sind also die berühmten Beerenplätze, von denen in Johannes’ Aufzeichnungen die Rede ist!, denkt Anna.
Gretl ist mit Fritz an den Rand der weiten, sonnenbeschienenen Heidelbeerfläche gegangen und hat sich schwer atmend auf einen Stein mit einer Kuhle gesetzt. Der blaue Schimmer auf ihren Lippen hat sich vertieft, stellt Anna besorgt fest. Aber sie wirkt wie verklärt und winkt Anna ganz aufgeregt zu, sich neben sie zu setzen.
»So viel Zeit meines Lebens habe ich hier oben verbracht«, sagt Gretl nach einer Weile ganz wehmütig. »Aber es war immer schön hier oben, auch wenn wir hart arbeiten mussten. Es war ja unser Zuhause. Im Winter haben wir uns immer nach dem Frühjahr gesehnt, wenn wir wieder herauskonnten. Heraus aus dem Dreck und dem Gestank der Stadtmühle. Für Johannes war es am wichtigsten, glaube ich. Wie oft hat er hier gesessen und gemalt. Dann ...« Gretls Worte verlieren sich. Am Himmel zieht ein kleines Motorflugzeug seine Kreise, sein surrendes Geräusch durchbricht für kurze Zeit die Stille, die sich zwischen den drei Menschen ausgebreitet hat.
Anna spürt genau, wie wichtig für Gretl der Besuch hier oben ist, der Besuch mit ihr, Johannes’ Urenkelin. Sie hat viele Fragen, aber sie respektiert das Schweigen der alten Frau. Wie kann man von all den Erinnerungen sprechen, wie kann man das mitteilen, was einen als immer noch lebendige Gegenwart erfüllt, wenn es für die anderen doch nur der Nachhall längst vergangener, alter Geschichten ist?
Nach einer Weile sagt Gretl mit brüchiger Stimme: »Meine ersten Erinnerungen verbinde ich mit dem Katzenbuckel. Mühlbecks Guste hat mich als kleinen Säugling vor ihren Bauch gebunden und nach oben getragen. Für sie war ich so etwas wie eine lebendige Puppe, etwas, dem sie ihre Liebe schenken konnte. Ich hab sie sehr gern gehabt, die Guste. Sie hat hier auch mit mir gespielt, als ich ein ganz kleines Mädchen war. Ich konnte gerade laufen, aber bergauf haben sie mich in den Korb gesetzt, nur beim Hinuntergehen musste ich laufen, denn dann waren die Körbe voll mit Beeren. Auf meinen kleinen Beinchen bin ich hinterhergewackelt. Geheult habe ich oft, und wie, wenn ich nicht mehr mitkam. Da hat mich der Friedrich oft auf seine Schultern gesetzt, das war schön. Die Emma, seine Schwester, die ja zwei Jahre älter war, ist am Anfang immer sehr eifersüchtig auf mich gewesen. Sie hing immer am Johannes, er war ihr Held, und der Friedrich, der war mein Beschützer. Zum Johannes bin ich dann gegangen, wenn ich traurig
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