Beerensommer
zuerst seine Stimme, die alles andere als nach einem Jungen klingt. Neugierig spitzt sie die Ohren. Er scherzt wohl mit Gretl, denn einige Male hört sie lautes Lachen: erst sein lautes und voll tönendes und dann Gretls brüchiges und etwas heiseres, das von dem typischen rasselnden Unterton begleitet wird.
Dann wird sie gerufen und sieht im Wohnzimmer einen hoch gewachsenen und sehr schlanken jungen Mann lässig auf der Lehne des Sofas sitzen, einen Arm hat er um Gretls Schulter gelegt. Er macht einen netten Eindruck, aber Anna spürt wieder diesen Stich, dieses leise schmerzende Gefühl von Eifersucht und auch ein wenig Einsamkeit. Doch sie zwingt sich zu einem freundlichen Lächeln und streckt dem jungen Mann die Hand hin.
Prüfende Blicke aus dunkelbraunen Augen streifen sie und im gleichen Moment, als er ihre Rechte fest ergreift, denkt Anna ganz verwirrt: Wow, sieht der gut aus! Eine etwas blässere, milchkaffeebraune Variante des Vaters, die dunklen Locken sind nicht ganz so kraus wie bei Richard Caspar, aber unübersehbar ist dieses fremde, exotische Element.
Wie kommt so etwas bloß in eine alte Schwarzwälder Familie?, überlegt Anna, später muss ich unbedingt Gretl fragen.
Die ist schon ganz aufgeregt und treibt zur Eile an. Endlich wird sie ihren geliebten Wald, ihren geliebten Katzenbuckel wiedersehen. Sie rennt hinaus in den Flur, um sich mit Hilfe eines langen Schuhlöffels die Straßenschuhe anzuziehen, breite, bequem aussehende Schuhe aus weichem Leder, über deren Rand trotzdem ihre aufgedunsene Haut quillt. Schwer atmend und schnaufend zwängt sie sich auch in den zweiten Schuh und lehnt jede Hilfe ab. Über ihren gekrümmten Rücken hinweg zwinkert der junge Mann Anna zu, die zu ihrem Ärger spürt, dass sie ganz rot wird.
»So ist sie, unsere Gretl. Stur wie ein Maulesel.« Aber dabei streicht er ihr zärtlich über den Rücken und Gretl scheint es nicht weiter krumm zu nehmen. Anna überlegt, wie sie ihn anreden soll, richtig förmlich vorgestellt hat er sich nicht, bloß gesagt: »Ah, da ist ja unser Überraschungsgast aus Berlin.« – »Überraschungsgast« – als ob sie ein Fernsehstar sei. Was der sich bloß einbildet. Vielleicht sollte ich ihn Freddy nennen, denkt sie lächelnd, zum Ausgleich.
Auf dem Weg zum Auto, dem großen, dunklen Mercedes seines Vaters, sagt er über die Schulter hinweg: »Ist es dir recht, wenn wir uns duzen? Ich heiße Frederic, für gute Freunde einfach Fritz. Andere Abkürzungen sind nicht erwünscht!« Anna grinst in sich hinein. Dann also Fritz ...
Nachdem sie die schnaufende Gretl auf dem Rücksitz verstaut haben, geht die Fahrt ein Stück zurück auf der Straße, die Anna schon gefahren ist, dann biegt Fritz ab und es geht steil den Berg hinauf. Links und rechts sieht Anna das undurchdringliche dunkle Grün der hohen Fichten, ab und zu tut sich eine Lücke auf und kurz blitzen die gegenüberliegende Bergseite und der sich darüber wölbende blaue Himmel auf. In engen Serpentinen schlängelt sich der Weg und Anna muss sich am Griff über der Beifahrertür festhalten, sonst wäre sie immer wieder gegen Fritz’ rechte Schulter gefallen.
»Wir fahren jetzt durch Staatswald«, sagt er in das anhaltende Schweigen hinein. »Wir haben die Erlaubnis der Forstbehörde, diese Straße zu benutzen, weil es sonst keine andere Zufahrtsmöglichkeit zu unserem Wald gibt.«
Anna riskiert einen verstohlenen Seitenblick nach hinten zu Gretl und sieht, dass die alte Dame ganz zusammengesunken auf ihrem Sitz kauert, den Blick fest durch die Scheibe nach draußen gerichtet. Was wohl in ihrem Kopf vorgehen mag?, überlegt Anna. Für sie ist es immer wieder eine Reise in die Vergangenheit. Wie oft sie wohl mit meinem Urgroßvater diesen Weg gelaufen ist? Und jetzt bin ich dabei, das ist sicher etwas Besonderes für sie. Fritz plaudert weiter, vielleicht spürt er die Bedrückung, die auf Gretl zu lasten scheint, und will sie ablenken. Sie seien heute Abend zum Essen eingeladen, erzählt er und seine Mutter lässt fragen, ob sieben Uhr recht sei. Er würde sie dann abholen. Mutter würde Spätzle machen und ob sie, Anna, das schwäbische Nationalgericht überhaupt kenne. Was denkt denn der? Natürlich kennt sie Spätzle! Ihre Mama hat sie manchmal gemacht, obwohl sie nicht gern gekocht hat. Aber wenn sie ihre »sentimentalen Anwandlungen« hatte, wie sie es nannte, gab es Schwäbisches.
»In Berlin kann man Maultaschen sogar im Supermarkt kaufen«, bemerkt sie etwas
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