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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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seine Grunbacher gemocht und verstanden. Der Neue sprach nur Hochdeutsch und verstand gar kein Schwäbisch, sodass man sich gewaltig anstrengen musste und manchmal gar nicht richtig wusste, was man ihm sagen sollte.
    Daran dachte Friedrich, als er keuchend auf der unteren Enzbrücke angelangt war und ihn nur noch wenige Meter vom Haus des Arztes trennten. Nein, sympathisch hatte er nicht ausgesehen mit seinem aufgezwirbelten Bart und den komischen Narben auf einer Wange. Das hätten die Studierten halt, sagten die Leute, aber der alte Doktor hatte so etwas auch nicht gehabt und der hatte doch auch studiert. Das ist jetzt ein Notfall, dachte Friedrich verzweifelt. Ein kleiner Junge, unser Wilhelm, ihm geht es so schlecht, da muss er doch kommen, und zog ungestüm an der schwarz lackierten Klingel, die laut scheppernd die Stille der Nacht zerriss. Friedrich zog noch einmal aus Leibeskräften und endlich drang aus den Ritzen des zugeklappten Fensterladens ein dünner Lichtstrahl, der schräg auf das Gesicht des Jungen fiel. Dann hörte man Stimmengemurmel und der Fensterladen wurde weit aufgestoßen.
    »Was gibt es denn mitten in der Nacht?«, fragte jemand ungehalten von oben.
    Friedrich mühte sich einigermaßen ruhig zu antworten: »Ein Notfall, Herr Doktor. Bitte entschuldigen Sie. Ich würde Sie bestimmt nicht stören, aber meinem kleinen Bruder geht es sehr schlecht. Er spuckt Blut und rührt sich nicht mehr und ...« Hier stockte Friedrich, er wusste einfach nicht mehr weiter. Aber das musste doch genügen!
    Von oben schnarrte die Stimme immer noch ungeduldig: »Kein Grund, so einen Lärm zu veranstalten. Sprich etwas leiser. Wo wohnt ihr?«
    Friedrich öffnete schon den Mund und wollte »In der Stadtmühle« rufen, als er plötzlich mutlos den Kopf sinken ließ. Tränen schossen ihm in die Augen. Daran hatte er nicht gedacht, wahrscheinlich hatte er es einfach nicht wahrhaben wollen. Ja, wenn er noch hätte sagen können: »Wir wohnen in der Herrengasse«, dann wäre der Herr Doktor gleich gesprungen. Aber so ... Trotzdem, er musste alles versuchen! Leise sagte er: »Am Lindenplatz.« Das war zumindest nicht gelogen.
    Ungeachtet seiner vorigen Mahnung rief der Doktor: »Sprich lauter bitte, ich kann dich nicht verstehen!«
    »Am Lindenplatz, Herr Doktor. Ich warte hier unten auf Sie und werde Sie führen.«
    Doch so leicht ließ sich der Doktor nicht abspeisen. »Wo genau am Lindenplatz? Und wie heißt du eigentlich?«
    Friedrich merkte plötzlich, wie die beißende Kälte durch seinen Körper kroch. Sie kroch durch die abgetragene Jacke, die dünnen Schuhe und sogar durch den wollenen Schal, den er fest um den Hals geschlungen hatte. Die Mutter hatte ihn aus einem alten Pullover gestrickt, den der Großvater ihm mitgegeben hatte. Er war Friedrich zu klein gewesen und auf seinen Hinweis, man könne ihn für Wilhelm aufheben, hatte die Mutter den Kopf geschüttelt und geantwortet: »Du brauchst jetzt etwas für den Winter.« Dann hatte sie die Wolle aufgezogen und den Schal daraus gestrickt. Jetzt kam es Friedrich wie ein großes Unrecht vor, dass er diesen Schal angenommen hatte, er zog und zerrte daran, weil er plötzlich meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Gleich nachher wollte er ihn Wilhelm geben. Wollte ihn damit wärmen und vor allen Dingen wollte er das Holzpferdchen kaufen, er musste unbedingt das Pferd kaufen, aber erst musste er diesen eingebildeten Schnösel dazu bringen, dass er mitkam, jetzt gleich!
    Er rief mit unterdrückter Stimme nach oben: »In der Stadtmühle. Wir heißen Weckerlin!«
    Das Schweigen oben war beunruhigend. Friedrich fügte noch hinzu: »Wir wohnen noch nicht lange dort«, und, etwas leiser: »Mein Vater war der Maurermeister Weckerlin.«
    Wer weiß, vielleicht kannte sich der neue Doktor noch nicht so richtig aus, vielleicht half dieser Hinweis.
    Aber von oben kam nur ein knappes: »Schau morgen vorbei! Macht ihm Wadenwickel und gebt ihm ordentlich zu trinken!« Dann wurde das Fenster mit hörbarem Knall zugeschlagen.
    Friedrich schrie verzweifelt gegen dieses Geräusch an: »Wir können Sie bezahlen – wir haben etwas Geld.« Oben öffnete sich noch einmal das Fenster und in Friedrich stieg Hoffnung empor, wilde verzweifelte Hoffnung. Hatte das Zauberwort gewirkt? Aber es blieb still, eine Hand erschien und zog den Fensterladen zu und dann erlosch das Licht. Wie betäubt starrte der Junge auf das dunkle Viereck, starrte und starrte, als müsste es möglich sein, allein mit

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