Beerensommer
Pferd gekauft hatte, und würde ein Einsehen haben! Ab jetzt würde er nicht mehr nur an sich denken und an seinen Stolz, diesen »vermaledeiten Stolz«, wie Johannes es nannte, und er würde aufhören mit dieser verbissenen Wut und dem Hass auf die anderen und jeder Groschen sollte jetzt der Mutter gehören und er wollte noch mehr arbeiten, damit sie gutes Essen für Wilhelm kaufen konnten, Butter und Sahne.
Immer mehr Menschen kamen ihm entgegen, Schulkinder, die ehemaligen Freunde, die auf dem Weg zum Bahnhof waren, um nach Wildbad ins Gymnasium zu fahren. Er meinte auch den Oberlehrer Caspar von Weitem gesehen zu haben, der stehen geblieben war und ihm verblüfft nachschaute. Einige Arbeiter, die zur neuen Fabrik hinten im Grunbachtal gingen, wichen ihm aus und schrien ihm lachend etwas hinterher.
Endlich war er an der Stadtmühle angelangt, er riss die Tür auf, da standen im Flur die Mühlbeck-Kinder, Ludwig, Otto und Guste, an die sich der kleine Ernst drückte, der noch im Hemdchen war und ganz blau gefrorene Beine hatte. Sie starrten ihn an, ohne ein Wort zu sagen, standen nur da und starrten, und in Gustes Augen hingen Tränen. Dumme Kuh, warum heulte sie denn?
Die Tür zum Zimmer stand weit offen, man konnte die eintönige Stimme der Ahne hören, die offenbar etwas vorlas. Warum ließen sie Wilhelm nicht in Ruhe, er musste doch schlafen? Friedrich bekam auf einmal ganz weiche Knie, er musste sich für einen Moment an den Türrahmen lehnen, dann aber gab er sich einen Ruck und trat tief durchatmend ins Zimmer. Auf den ersten Blick hatte sich scheinbar nichts verändert, es war nur taghell jetzt und der goldene Schimmer der Sonne, der sogar die altersschwachen Möbel in ein sanftes Licht tauchte, war stärker geworden. Die Mutter kniete immer noch an Wilhelms Bett und die anderen standen in einem Halbkreis um sie herum. Aber sie hatten die Hände gefaltet, eine rußige Kerze brannte auf dem Nachttisch und jetzt konnte er auch die Ahne verstehen, sie las einen Psalm: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln ...«
Friedrich stürzte herein. »Aufhören, seid doch leise. Wilhelm ...!« Er ließ sich auf der Bettkante nieder und begann den Bruder sanft aber bestimmt zu rütteln. »Wilhelm, schau her, was ich dir gebracht habe. Den Hannes, ich habe den Hannes wiedergefunden. Da, schau her, Wilhelm ...« Und er drückte das Holzpferdchen in seine Hände. Merkwürdig bewegungslos wie eine Puppe lag der Bruder da, und wie kalt Wilhelm war, eiskalt. Er begann seine Hände zu reiben. Man musste Feuer machen, noch mehr Feuer. Feuer aus Buchenholz, egal, was die anderen sagten.
Plötzlich spürte Friedrich, wie jemand seine Schultern umfasste und vom Bett wegzog.
»Friedrich«, hörte er Johannes’ Stimme an seinem Ohr. »Friedrich, hör auf, Wilhelm ist tot, hörst du. Er ist vorhin eingeschlafen. Er hat nun keine Schmerzen mehr und keine Angst. Komm, Friedrich ...«
Friedrich wollte sich wehren, diese Hände abschütteln, er war doch viel stärker als Johannes. Aber merkwürdig, es ging nicht. Er gab ihrem Druck nach, ließ sich zu einem Stuhl führen und von ganz ferne drang die vertraute Stimme an sein Ohr: »Wilhelm ist tot, er hat nun keine Schmerzen mehr und keine Angst.«
Aber das konnte doch nicht sein. Er hatte das Holzpferd gekauft. Er hatte doch Gott versprochen, das Pferd zu kaufen! Aber da war Johannes’ Stimme, unbeirrt: »Wilhelm ist tot, Friedrich. Es tut mir so leid.« Und für einen kurzen Augenblick ließ er sich in Johannes’ Arme fallen, nahm dankbar die Wärme entgegen, die von ihm ausging, wie in jener Nacht am Lindenplatz.
An den weiteren Verlauf des nächsten Tages erinnerte sich Friedrich nur noch schemenhaft. Der Großvater war gekommen, heraufgerannt vom Unterdorf, nachdem der älteste der Mühlbeck-Buben ihn am frühen Morgen aus dem Schlaf geklopft hatte. Später kamen auch die Großmutter, Onkel und Tante. Die beiden Frauen standen wehklagend am Bett und vergossen wohl auch ein paar Tränen, aber sie wirkten seltsam unbeteiligt und später, als ihnen in der Küche pflichtschuldigst heißer Kaffee aus gemahlenen Eicheln angeboten wurde, den sie mit spitzen Mündern ablehnten, hörte Friedrich, wie die Tante der Großmutter ins Ohr flüsterte: »Ein Esser weniger!« Da konnte er ihre Gegenwart nicht mehr ertragen und er ging wieder hinüber zum toten Bruder, der kalt und steif in seinem armseligen Bett lag. Wenig später kamen die Leichenbesorgerin und einige
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