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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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Johannes’ Augen zwang ihn ruhig zu bleiben, die Panik niederzukämpfen und das Nächstliegende zu tun. Er musste die Mutter beruhigen, dass sie nicht zusammenbrach, und der Ahne helfen, die sich mit zitternden Händen mühte, etwas Kräutertee zwischen Wilhelms rissige Lippen zu schütten. Derweil hatte Lene die kleine Emma, die eingeschlafen war, sanft in ihr Bett zurückgelegt und mit Frau Mühlbeck schweigend die Wadenwickel gewechselt. So verrann Stunde um Stunde, keiner sprach, alle saßen um das Bett versammelt, an dem Frau Weckerlin kniete, Wilhelms Hand haltend und immer wieder seine Stirn streichelnd. Bei jedem Geräusch war sie hochgefahren und hatte gemeint, das müsse jetzt der Doktor sein.
    Auch Friedrich wartete, nicht auf den Doktor, sondern darauf, dass es endlich hell wurde und das Geschäft von Frau Schwarz aufgemacht wurde. Um halb acht würde er hinüberrennen und das Holzpferdchen kaufen, würde seinem Stolz dieses Opfer abverlangen, um Gott gnädig zu stimmen. Seine Lippen bewegten sich stumm: Lieber Gott, wenn ich ihm das Holzpferdchen kaufe – vielleicht tut ihm das gut, wenn er meint, er habe den Hannes wiederbekommen, das gibt ihm Auftrieb.
    Endlich drang das erste Tageslicht durch die Scheiben und das Zimmer leuchtete auf einmal förmlich unter dem rotgoldenen Sonnenaufgang. Die Mutter hob den Kopf und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Er ist auf einmal ganz ruhig«, flüsterte sie, »er schläft ganz tief. Seid leise, er schläft sich gesund. Er glüht auch nicht mehr so.«
    Friedrich blickte auf den kleinen Bruder, der in der Tat bewegungslos in den Kissen lag. Sein Gesichtchen schien auf einmal merkwürdig blass zu sein. Die anderen traten geräuschlos hinzu. Frau Weckerlin streichelte immer noch Wilhelms Stirn und sah richtig glücklich aus. Trotzdem, etwas stimmte nicht, Friedrich blickte beunruhigt in die Gesichter der anderen, hielt am Schluss Johannes’ Blick fest. Der schüttelte auf einmal ganz unmerklich den Kopf. Aber das konnte, das durfte doch nicht sein!
    Friedrich rannte hinüber zu der Ecke mit den losen Dielenbrettern und holte mit zitternden Fingern das Tuch mit den Münzen heraus. Wieder schlüpfte er in die Schuhe, schlang den Wollschal um seinen Hals und stürzte hinaus in den frostklirrenden neuen Tag.
    Frau Schwarz hatte gerade die Tür geöffnet und starrte missbilligend hinaus in das goldene Morgenlicht. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen und sie stampfte abwechselnd mit beiden Füßen auf den Boden, um die Kälte zu vertreiben.
    »Was willst du denn schon hier?« Ihr Blick glitt abschätzig über Friedrich hinweg, der keuchend vor ihr stehen geblieben war und ihr das Taschentuch mit dem Geld entgegenstreckte. »Solltest du nicht langsam zur Schule gehen?«
    Ohne auf die Frage zu achten, schob sich Friedrich in den Laden. Gott sei Dank, das Pferdchen war noch da! Ganz oben stand es auf einem der Regale, das linke Vorderbein zierlich erhoben und starrte ihn aus schwarz lackierten Augen an.
    »Das Holzpferd da oben, Frau Schwarz, das möchte ich haben, bitte. Es ist dringend. Geld habe ich dabei. Bitte, Frau Schwarz, geben Sie mir schnell das Pferd!«
    Mathilde Schwarz schaute den Jungen misstrauisch an, der diese Sätze hervorstieß, als hätte er körperliche Schmerzen. Irgendetwas war da faul. Sie begann langsam die Münzen zu zählen, bildete kleine Häufchen und zählte noch einmal, während der Junge ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Das Geld stimmte, es waren sogar einige Pfennige zu viel, die sie ihm stumm zurückschob und die er sorgfältig wieder in sein Taschentuch wickelte. Dann holte sie schnaufend eine Leiter, stieg mühsam hinauf und angelte das lackierte Pferd vom Regal. Friedrich riss es ihr förmlich aus der Hand und stürmte ohne ein Wort zu sagen aus der Tür hinaus.
    »Hast wohl das Dankesagen ganz verlernt und das Grüßen, wie’s bei anständigen Leuten üblich ist!«, rief sie ihm verwundert nach. Aber er rannte ohne zu zögern weiter und Mathilde Schwarz stand am Fenster ihres Kolonialwarenladens und starrte verdutzt der immer kleiner werdenden Gestalt nach, die jetzt um die Ecke des Rathauses bog.
    Friedrich rannte zum zweiten Mal, als ginge es um Leben und Tod, und das tat es ja wirklich. Wilhelm lebt noch, er lebte ganz bestimmt noch. Er lag in tiefer Ohnmacht, sicherlich hatte die Mutter recht, er schlief sich gesund. Und er, Friedrich, hatte das Pferd gekauft, der liebe Gott hatte gesehen, dass er wirklich das

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