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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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warten. Im Frühjahr vielleicht, wenn sie Kräuter holten, zu seinem Geburtstag im Mai – und um sein heftig nagendes Gewissen zu beruhigen, schwor er sich mit fest zusammengebissenen Zähnen, dass er als Erstes das Holzpferdchen kaufen würde, wenn es dem Bruder wieder schlechter gehen sollte. Alles andere musste dann eben warten. So getröstet ging er hinüber zur Mutter, um ihr die frohe Botschaft zu bringen, dem Wilhelm gehe es tatsächlich schon viel besser.
    Zwei Tage lag Wilhelm blass und matt auf seinem Strohsack, nur mit Mühe gelang es, ihm etwas von der Brennsuppe einzuflößen, die die Mutter eigens für ihn gekocht hatte und die sogar mit einem Stückchen Butter verfeinert worden war. Die Butter hatte der Großvater gebracht, um dem Wilhelm etwas »zuzusetzen«, wie er sich ausdrückte. Friedrich hatte nur stumm seine Mutter angesehen, die sich herzlich bedankt hatte, und dabei überlegt, wie viele Kämpfe es wohl gekostet hatte, um der Großmutter das kleine Stückchen Butter abzuschwatzen. Es geht weiter aufwärts, beruhigte sich Friedrich, der immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, und tatsächlich spielte Wilhelm am Abend sogar mit dem selbst gemachten Holzpferd, das er einige Male über die zerschlissene Decke galoppieren ließ.
    Aber in der Nacht wurden sie plötzlich durch seinen krampfhaften, würgenden Husten aufgeweckt! Wilhelm saß aufrecht im Bett und rang verzweifelt nach Luft. Die Mutter war schon aufgesprungen und klopfte ihm auf den Rücken, der Kleine war blaurot im Gesicht, der schmächtige Körper wurde so sehr von den Hustenkrämpfen geschüttelt, dass die Mutter ihn kaum festhalten konnte. Nach endlosen Minuten beruhigte sich der Husten. Wilhelm rang zwar immer noch rasselnd nach Atem, aber die normale Gesichtsfarbe war zurückgekehrt. Vorsichtig legte ihn die Mutter zurück und zog ihren linken Arm weg, da bemerkte sie große dunkle Flecken auf dem Ärmel des weißen Nachthemdes! Sie schrie auf und Friedrich stürzte zum Bett. Fassungslos starrte er auf den Arm der Mutter, den diese von sich weggestreckt hielt, als gehöre er nicht zu ihr, sei etwas Fremdes, Bedrohliches.
    »Blut«, schrie sie, »Blut! Fritz, unser Wilhelm spuckt Blut!«
    Der Kleine lag mit weit aufgerissenen Augen im Bett. Friedrich legte die Hand auf die Stirn des Bruders und zuckte zurück. Ganz heiß, fieberheiß, wie noch nie zuvor, schien ihm der Bruder zu sein, der blicklos vor ihm lag und sich nicht mehr rührte.
    »Ich lauf zum Doktor«, presste Friedrich hervor, schlüpfte rasch in die ausgetretenen Schuhe des Großvaters und riss eine dünne Jacke vom Nagel, die eigentlich der Mutter gehörte.
    Emma war in der Zwischenzeit aufgewacht und begann zu heulen, ungeduldig beschwichtigt von der Mutter, die zwischen ihr und Wilhelm hin- und herlief.
    »Beeil dich, Fritz«, rief sie ihm noch zu und rannte in die Küche, um kaltes Wasser zu holen. Friedrich war schon zur Tür hinaus und im Vorbeirennen sah er, dass in den anderen Zimmern das Licht anging. Das war gut, dann war die Mutter nicht mehr so alleine. Die alte Ahne kannte auch so manches Hausrezept. Und Johannes, auf den war Verlass, der konnte die Mutter beruhigen.
    Friedrich rannte, rannte, als ginge es um sein Leben – und um ein Leben ging es ja schließlich! Er rannte hinaus in die sternklare Nacht und spürte nicht die Eiseskälte unter seinen dünnen Sohlen. Ihm lief der Schweiß über Stirn und Wangen, wahre Schweißbäche, die schon nach wenigen Sekunden gefroren und als kristallene Eisschicht den unteren Teil des Gesichtes überzogen.
    Der Doktor wohnte am Anfang des Unterdorfs, nicht unweit des Dederer-Sägewerks, in einem prachtvoll verzierten Holzhaus, an dessen Breitseite viele Hirschgeweihe angebracht waren. Früher hatte der königliche Forstmeister hier gewohnt, aber mit der Zeit war das Haus zu klein geworden und man hatte im Oberdorf, direkt an der Enz, ein noch stattlicheres Haus für die Forstbehörde errichtet. Der neue Doktor hatte dann das alte Forsthaus gekauft, denn der alte Doktor Stölzle hatte sich im Sommer zur Ruhe gesetzt. Den neuen kannte Friedrich noch nicht, er hatte ihn lediglich ein paarmal aus der Ferne gesehen, wie er in seinem Einspänner schneidig über den Lindenplatz gefahren war. Hochnäsig sei er, erzählten sich die Leute, hochnäsig und eingebildet, gar nicht so wie der alte Herr Doktor, der des Öfteren zwar auch geschimpft und gepoltert hatte, aber das war etwas anderes gewesen und im Übrigen hatte er

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