Beerensommer
der Kraft seiner Gedanken das Licht wieder anzuzünden und das Fenster zu öffnen. Schließlich griff Friedrich tränenblind in den riesigen Schneehaufen, der am Straßenrand aufgeschüttet war. Der Schnee war gefroren und als Friedrichs Finger eine feste Kugel formten, schnitten die Eiskristalle so sehr in seine Haut, dass Blut hinunterlief und dunkle Spuren im weißlich schimmernden Schneeball hinterließ. Friedrich hob den Arm und wollte in blinder Wut auf das dunkle Viereck schießen, aber dann ließ er den Arm wieder sinken. Das würde den Doktor nur ärgern und dann kam er gar nicht mehr.
Was sollte er nur tun? Nach Wildbad laufen? Er brauchte mindestens eine Dreiviertelstunde und dort gab es ausschließlich Ärzte für die vornehmen Leute, die Kurgäste. Ob einer von denen nach Grunbach finden würde, ins Armenhaus, zu Leuten, die nicht versichert waren und die kein Geld hatten, um die Rechnung zu bezahlen?
Unbewusst hatte Friedrich den Weg zurück zur Stadtmühle eingeschlagen. Zehen und Hände spürte er gar nicht mehr, sie waren wie abgestorben! Aber Friedrich achtete nicht darauf.
Wenn Wilhelm stirbt ..., hämmerte es unablässig in seinem Kopf, wenn Wilhelm stirbt ... Und er begann wieder zu rennen, immer schneller. Wenn Wilhelm stirbt!
»Gleich morgen kaufe ich das Pferdchen«, flüsterte er. »Lieber Gott, ich kaufe dieses Pferdchen, ich war selbstsüchtig, wollte Schuhe kaufen und ein Geschenk für Johannes, um ihn zu beeindrucken, weil ich auf den Caspar eifersüchtig bin, aber ich kaufe das Pferdchen, ich verspreche es!« In der Frühe, gleich um acht wollte er zur Frau Schwarz gehen.
So versuchte Friedrich einen Handel mit Gott zu machen, wollte seinen größten Wunsch, ein paar eigene Schuhe für die Konfirmation, eintauschen gegen Wilhelms Leben!
Als er endlich keuchend bei der Stadtmühle angekommen war, sah er hin- und herhuschende Schatten hinter den erleuchteten Fenstern. Gott sei Dank war die Mutter nicht allein, sie hatte Hilfe bekommen. Er betrat die Stadtmühle und ging mit schwerem Schritt hinüber zu ihrem Zimmer. Leise öffnete er die Tür. Am Fußende von Wilhelms Bett saß Johannes, der ihm zunickte. Die Ahne und die Mutter standen am Tisch, beide flüsterten, daneben war Lene, die die kleine Emma auf dem Arm hielt, das Köpfchen fest an ihre Schulter gedrückt und leise summend. Sogar Frau Mühlbeck war gekommen, sie kauerte neben dem rot glühenden Ofen, der eine ungewohnte Hitze verströmte. Die Mutter hatte ganz unvernünftig geheizt, hatte sogar das gute, kostbare Buchenholz verfeuert. Wilhelm warf sich unruhig auf seinem Bett hin und her. Seine Wangen glühten stärker als zuvor und ab und zu riss ein quälender Husten den schmächtigen Körper förmlich in die Höhe. Auf Wilhelms Hemd und auf der Decke hatten sich dunkle Flecken ausgebreitet, also spuckte er immer noch Blut!
Rasch trat Friedrich hinüber zur Mutter, die nach den Anweisungen der Ahne einige getrocknete Kräuter und schwarze verschrumpelte Holunderbeeren in einen Krug gegeben hatte und nun heißes Wasser darüberschüttete. Als sie Friedrich sah, trat sie schnell auf ihn zu. »Was hat der Doktor gesagt? Wo ist er denn?«
Friedrich bemerkte ihre geschwollenen Augen und die tiefen Furchen, die sich rings um ihre Mundwinkel eingegraben hatten. Nun sank ihm der Mut vollends. Wie sollte er der Mutter die Wahrheit sagen?
Er wandte den Kopf zur Seite, um die Mutter nicht direkt ansehen zu müssen und flüsterte kaum hörbar: »Er ist bei einem anderen Kranken. Aber sie schicken ihn herüber, gleich wenn er nach Hause kommt.«
Weinend ließ sich die Mutter auf die Knie sinken und legte ihre Stirn auf den Strohsack, auf dem sich Wilhelm immer noch unruhig hin- und herwarf. »Was sollen wir nur tun? Wenn es ihm schlechter geht und der Doktor ist nicht da?«
Friedrich hockte sich neben die Mutter und legte den Arm um sie.
»Er kommt sicher gleich, sei ganz ruhig.« Sein Blick streifte Johannes, der immer noch am Fußende des Bettes saß. Die hellblauen Augen waren mit einem undefinierbaren Ausdruck auf ihn gerichtet. Johannes weiß es, dachte Friedrich plötzlich. Er weiß, dass der Doktor nicht kommen wird, weil wir Armenhäusler sind, und er weiß, dass Wilhelm sterben wird. Wilhelm wird sterben!
Am liebsten wäre er aufgesprungen, hätte geschrien, das altersschwache Mobiliar zusammengeschlagen, wäre hinausgerannt und hätte den Doktor aus seinen weichen Federbetten gezerrt! Aber der unbeirrte Blick aus
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