Beerensommer
Büchlein war eine wahre Entdeckung gewesen. In wenigen Tagen hatte Johannes es ganz durchgelesen und war mit geröteten Wangen zu Friedrich gestürzt. Diese Geschichte müsse er unbedingt lesen, etwas Wunderschönes sei das, und eines wisse er genau, dass er es einmal genauso wie dieser Müllerssohn mache. »Wir hauen einfach ab und gehen nach Italien, du kommst natürlich mit«, fabulierte er oft, wenn sie beisammensaßen und den rot glühenden Schimmer des Feuers durch die Ritzen des Ofens betrachteten. Und dann las er vor, las mit Hingabe unter dem matten Lichtschein der Lampe über dem Küchentisch und die Kinder umringten ihn und hingen andächtig an seinen Lippen, wenn er von der Postkutsche mit dem schönen Fräulein darin, dem Schloss in Wien oder der unheimlichen Begegnung mit den beiden Malern las. Manches verstanden sie nicht, aber das war egal, denn Johannes’ Verzauberung hielt auch sie gefangen!
Und es ist auch wirklich eine schöne Geschichte, dachte Friedrich in diesem Moment. Und alles, alles war gut – ach, wenn man das auch eines Tages von ihrem Leben sagen könnte! Besorgt lauschte Friedrich auf die rasselnden Atemzüge des kleinen Bruders. Jedenfalls brauchte er für Johannes ein Konfirmationsgeschenk, gutes Zeichenpapier natürlich und vielleicht sogar ein paar Tuben von diesen Ölfarben, von denen Johannes immer so sehnsuchtsvoll schwärmte. Damit würde er den Caspar ausstechen, bei dem es nur zu Wasserfarben gereicht hatte.
Aber dieses Ziel schloss das andere, die Schuhe, aus und jetzt war noch ein weiterer Gedanke, ein weiteres Ziel hinzugekommen: Wilhelm jammerte immer wieder nach seinem Hannes, dem Holzpferdchen, das im Haus in der Herrengasse zurückgelassen werden musste. Johannes und Friedrich hatten versucht, ihm aus Holz eine pferdeähnliche Figur zu schnitzen, aber die war nicht richtig gewesen. Bunt lackiert musste das Pferdchen sein und Räder musste es haben, damit man es ziehen konnte. Immer wieder hatte Wilhelm das Holzstück weggestoßen, das so gar keine Ähnlichkeit mit seinem geliebten Hannes hatte. Im Schaufenster des Kolonialwarenladens von Frau Schwarz hatte kurz vor Weihnachten allerhand Spielzeug gestanden, auch ein solches Pferd war darunter gewesen, das fast bis aufs i-Tüpfelchen dem schmerzlich vermissten Hannes glich. Der kleine Wilhelm hatte sich oft am Schaufenster die Nase platt gedrückt und hatte mit Gewalt weggezogen werden müssen. Als dann das Christkind dieses Pferd nicht gebracht hatte, stattdessen dieses hässliche Holzding, war er felsenfest überzeugt gewesen, dass das Ganze ein großer Irrtum sein müsse und das Pferdchen im Schaufenster immer noch auf ihn warte.
Nachdem so viel Schnee gefallen und das Wetter so eisig geworden war, hatten Johannes und Friedrich das Haus nicht mehr verlassen können, genauso wie die Mühlbeck-Kinder, die seit Wochen nicht mehr vor die Tür kamen und sehnsüchtig dem Lärmen der besser gestellten Dorfkinder zuhörten, die mit ihren Schlitten hinauf zum Eiberg oder Meistern zogen. Friedrich hatte von seinem Großvater schließlich ein paar ältere Schuhe bekommen, »leihweise, für den Winter«, sodass er bis Weihnachten zur Schule gehen konnte. Aber deren Sohlen waren so dünn, dass man sich nach kurzer Zeit Frostbeulen holte. Weil er ebenfalls keine Schuhe hatte, musste auch Wilhelm zu Hause bleiben, sonst wäre er jeden Tag zum Laden der Frau Schwarz gerannt und dort wahrscheinlich stundenlang vor dem Schaufenster stehen geblieben. Aber das Pferdchen geisterte immer wieder durch seine Fieberträume, sodass Friedrich seit einigen Tagen ernsthaft daran dachte, ihm vom Ersparten dieses Pferd zu kaufen, vorausgesetzt, es stand noch immer im Laden. Aber die Erfüllung dieses Wunsches schloss alle anderen aus, so viel stand fest, und da konnte er das Geld noch so lange zählen.
Seufzend fegte Friedrich die kleinen Münzhäufchen in die linke Hand und wickelte das Geld sorgfältig wieder in das Taschentuch ein. Er achtete auf jedes Geräusch, das von außen hereinkam, um nicht überrascht zu werden, denn von der Existenz dieses sorgsam gehüteten kleinen Schatzes wusste nur Johannes.
Wilhelm war in der Zwischenzeit in einen tiefen Schlaf gefallen, er atmete gleichmäßig und ruhig und die Fieberrosen auf seinen Wangen schienen nicht mehr ganz so tiefrot und glühend zu sein. Es geht ihm schon etwas besser, beruhigte Friedrich sich selbst, als er den schlafenden Bruder betrachtete. Der Hannes konnte noch ein bisschen
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