Beerensommer
Friedrich Recht behalten, dachte Johannes an diesem Morgen, aber es trifft nur für wenige zu und die Ahne und ich haben auch Recht behalten.
Verstohlen beobachtete er immer wieder die jungen Soldaten mit den grauen Gesichtern und den stumpfen Augen. Wenigstens hatten die wohl keine Frauen und keine Kinder, denn die Unterstützung für die Familien, deren Väter im Krieg waren, reichte hinten und vorne nicht. Die Gemeinde, in der Zwischenzeit wegen der Kriegsanleihen heillos verschuldet, hatte begonnen Straßen zu bauen, um einige Menschen in Lohn und Brot zu bringen, aber das half nicht viel. Die Ahne hatte gestern beim Bürgermeister große Wäsche gehabt und ihm am Abend erzählt, dass die Lebensmittel bald zugeteilt werden würden. »Spezielle Karten braucht man dafür, hat die Frau Bürgermeister erzählt, und es wird genau festgelegt, wie viel jeder bekommt. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, so wird’s werden.«
Die Frauen im Ort hatten in der Zwischenzeit sogar begonnen, die Brennnesseln abzuernten, um daraus ein spinatähnliches Gemüse zu kochen. Bald werden wir noch unsere Brennnesselhecke vor dem Hof bewachen müssen, dachte Johannes ironisch, sonst fallen sie auch noch darüber her.
Und trotzdem – überlagert wurde der Krieg von den ganz privaten Ereignissen, wie jetzt zum Beispiel seiner ersten Fahrt nach Pforzheim, um die Lehre anzutreten. Es war seine erste Eisenbahnfahrt überhaupt! Früher, als kleiner Junge, war er oft staunend stehen geblieben, wenn der große schwarze Koloss zischend und dampfend an ihm vorbeidonnerte. Die Ahne hatte immer behauptet, es sei ungesund und sogar gefährlich, dem Körper solche Geschwindigkeiten zuzumuten, und gottlos sei es zudem. Aber für die Ahne war alles, was Fortschritt bedeutete, gottlos! »Dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen« nannte sie es.
Und nun würde er in diesem Ungetüm, dem die Kinder damals den Namen »Schnaufer-Karl« gegeben hatten, nach Pforzheim fahren, einem Ort, der bislang weiter weg war für ihn als der Mond. Mit der Ahne war er als kleiner Junge einmal bis nach Birkenfeld gelaufen, wo eine entfernte Verwandte wohnte, der die Ahne beim Umzug helfen sollte. Die erwartete Entlohnung war sehr karg ausgefallen und zum Abendessen hatte es nur Kartoffeln mit etwas Butter und Salz gegeben. Für Johannes war das damals ein Festessen gewesen, aber die Ahne hatte auf dem langen Nachhauseweg genörgelt und geschimpft. Ein Stück Fleisch habe die Schuster-Base durchaus dazugeben können, schließlich habe man den ganzen Tag gearbeitet, aber knauserig sei die Base schon immer gewesen. Und dann hatte sie Johannes erzählt, gleich hinter Birkenfeld liege Pforzheim, eine riesige Stadt mit riesigen Häusern, die viele Stockwerke hoch waren, und Autos fuhren durch die Straßen, geheimnisvolle Kästen, die ganz ohne Pferde fahren konnten. In unvorstellbarer Geschwindigkeit konnten diese Autos sich bewegen, gottlos war das, gottlos wie die ganze Stadt, die Hure Babylon, wie es schon in der Bibel stehe!
Der kleine Johannes hatte am Schluss gar nicht mehr richtig zugehört. War mit seinen kurzen Beinchen benommen vorwärts gestolpert und nach dem stundenlangen Marsch halb tot auf seinen Strohsack in der Stadtmühle gefallen. Wenig später hatte er dann ein solches Auto gesehen, es war das erste im Dorf und wurde dementsprechend ausgiebig bestaunt.
Der Herr Sägewerksbesitzer Zinser, neben Alphonse Tournier der reichste Mann im Ort, hatte sich eines gekauft und prompt fuhr einige Wochen später der Herr Fabrikdirektor Tournier ebenfalls in einem solchen Gefährt. Die anderen wohlhabenden Leute konnten sich noch kein Auto leisten, nicht einmal der Louis Dederer. Der meinte, er hege ein grundsätzliches Misstrauen gegen diesen neumodischen Schnickschnack, er ziehe seine Kutsche mit den Braunen vor.
Johannes war gespannt auf diese Stadt, vor allem auch auf die großen Warenhäuser, die es dort geben sollte, über mehrere Stockwerke hinweg gab es Verkaufsstände, das war unvorstellbar. Friedrich hatte ihm davon erzählt, er war natürlich schon mehrere Male in Pforzheim gewesen, damals in der guten Zeit.
Johannes steckte seine Hände in die Hosentaschen, der morgendliche Wind war doch noch recht kühl. Seine Hände umfassten einige Münzen. Mit einer großen, schweren Münze hatte er vorhin die Fahrkarte gekauft. Am Schalter hatte ihn der Beamte misstrauisch angeschaut und dabei abwechselnd ihn und das Geldstück in seiner Hand betrachtet. Woher
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