Beerensommer
Spitzengardinen unruhig auf und ab gegangen und dann plötzlich vor Johannes stehen geblieben, der erwartungsvoll auf dem dunkelroten Samtsofa saß.
»Was willst du eigentlich nach der Schule machen, Johannes? Was hast du dir vorgestellt?«
Zögernd hatte Johannes erwidert, dass er wohl zum Tournier gehe, der suche doch jetzt Leute.
»Granaten bauen, das ist doch nichts für dich!«, hatte Richard Caspar entschieden abgewehrt. »Höre, Johannes, du weißt, dass ich dich für begabt halte. Du hast Talent. Leider kann ich dir nicht in dem Maße helfen, wie ich es gerne täte! Die Mittel eines Oberlehrers sind begrenzt und in wenigen Jahren wird Richard, unser Sohn, so Gott will, auf die Universität gehen. Liebend gern würde ich dich auf eine Kunstakademie schicken oder dir in irgendeiner Form Unterricht zuteil werden lassen – aber so, wie die Dinge liegen ... Zudem musst du ja Geld verdienen als Lebensunterhalt für dich und die alte Tante. Die wird auch nicht jünger.« Hier schwieg der Herr Oberlehrer taktvoll einige Sekunden. »Kurz und gut, oder vielmehr nicht gut, allzu ehrgeizige Ziele lassen sich nicht verfolgen. Aber es liegt mir viel daran, dich nicht in einer Fabrik oder einem Sägewerk zu wissen. Ich habe mit einem Vetter meiner Frau gesprochen, der Name ist dir vielleicht geläufig: Armbruster, Goldschmiede- und Uhrenfabrikant aus Pforzheim.«
Johannes musste verneinen, er wusste ja rein gar nichts von Pforzheim, dem Sündenbabel in den Augen der Ahne.
»Nun, unser Vetter Armbruster ist bereit, dich als Lehrling aufzunehmen. Ich habe ihm von deinem großen künstlerischen Talent berichtet und er will dir sogar das Lehrgeld erlassen. Was das Fahrgeld nach Pforzheim betrifft, da kann ich dir unter die Arme greifen.« Er ging zum Eichenbuffet und entnahm aus einer Schatulle ein Geldstück, das er Johannes schnell in die Hand drückte. »Hier, das wird fürs Erste reichen.« Und als Johannes erschrocken aufgesprungen war und ihm das Geldstück zurückgeben wollte, hatte er ihn sanft, aber bestimmt auf das Sofa zurückgedrückt und verlegen etwas von »später zurückzahlen« gemurmelt. Er war dann ans Fenster getreten und hatte angestrengt die Spitzensäume der feinen Gardinen betrachtet, als zähle er die winzigen Fäden.
»Goldschmied ist wahrscheinlich nicht das, was du dir erträumt hast, aber es ist tausendmal besser, als wenn du dich in der Fabrik oder im Wald zuschanden arbeitest. Dafür hat dir Gott dein Talent nicht gegeben!«
So war der Oberlehrer Richard Caspar zu einer Person geworden, die schicksalhafte Bedeutung in Johannes’ Leben gewann, der prügelnde, schreiende Herr Oberlehrer, der anderen Leuten die Köpfe vermaß. Richtig fassen konnte Johannes diesen Mann nicht, der offensichtlich zwei Gesichter hatte!
Er war ihm unendlich dankbar und trotzdem stieß ihn sein Verhalten vor der Klasse genauso ab, obwohl er ihn, Johannes, seit der Episode im letzten Sommer weitgehend in Ruhe ließ. Mit seinem vaterländischen Gerede wurde es nach Ausbruch des Krieges schlimmer als je zuvor. Kurz vor Ende des Schuljahres, unmittelbar nach der letzten Unterhaltung mit Johannes, hatte er in der Stunde eine Postkarte herumgereicht, die eine »Blumenlese Gefangener vom westlichen Kriegsschauplatze« zeigte, wie die Bildunterschrift lautete. Ausländische Kriegsgefangene waren darauf abgebildet, »Franzosen, Neger, Engländer, Belgier und Inder«, wie es weiter hieß, und die weiß- und dunkelhäutigen Männer schauten verdrossen in die Kamera, was Johannes angesichts ihrer demütigenden Situation nur zu natürlich erschien.
»Das sind unsere wahren Feinde!«, hatte Caspar gebrüllt und dabei aufgeregt mit der Karte gefuchtelt. »Weniger die Weißen auf dem Foto hier, obschon wir die auch verachten müssen, denn sie haben unser Vaterland angegriffen. Nein, die anderen, die Schwarzen, gegen die wir uns als Kulturvolk zur Wehr setzen müssen. Dies ist ein Krieg der Rassen, den das deutsche Volk bestehen muss!«
Und so ging es endlos weiter, über die dösende Klasse hinweg. Das mit den Rassen kannte man schon zur Genüge, ohne dass sich eines der Grunbacher Kinder etwas darunter vorstellen konnte. Es gab viel Wichtigeres – ihnen knurrten die Mägen, sie sehnten sich nach dem Klingeln, das das Ende des Unterrichts anzeigte. Sie wollten nach Hause zum kärglichen Mittagsmahl aus Kartoffeln und Ziegenmilch und viele dachten an den fernen Vater, den man irgendwo nach Frankreich oder Flandern
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