Beerensommer
hatte einer aus der Stadtmühle so viel Geld? Am liebsten hätte er wohl in die Münze hineingebissen, um zu prüfen, ob sie echt war. Aber schließlich gab er Johannes die Fahrkarte und das Wechselgeld und sein mächtiger Walrossbart hing traurig herab, als sei durch Johannes’ Bahnfahrt irgendwie die Welt aus den Fugen geraten.
Die Sache mit der Münze war ein weiteres wichtiges Ereignis gewesen, wichtiger noch als die Bahnfahrt, die nur die Folge dieser großartigen, geradezu unerhörten Begebenheit war. Das Geldstück hatte ihm nämlich der Herr Oberlehrer Caspar in die Hand gedrückt, eine Woche bevor die Osterferien begonnen hatten und die Schulzeit für Friedrich und Johannes unwiderruflich zu Ende gewesen war.
Schon lange vorher hatten sie überlegt und beraten, was sie tun konnten. Eine Lehre kam nicht in Frage, wie sollten sie das Lehrgeld aufbringen, wovon sollten sie leben? Es blieb nur eine Beschäftigung als ungelernter Arbeiter, das hieß Wald oder Sägewerk. Mehr als einmal war der Blick des Freundes verstohlen an Johannes herabgeglitten und der hatte genau gewusst, was Friedrich dachte. Wie sollte er, der Hänfling, das »Männle«, wie ihn der alte Mühlbeck nannte, eine körperlich so schwere Arbeit bewältigen? Das bedeutete, dass man zum Tournier gehen musste, Granatzünder zusammenbauen wie Lene und Guste. Friedrich hatte das für seine Person entschieden abgelehnt. Aus irgendeinem Grund, der Johannes verborgen blieb, wollte er zum alten Dederer ins Sägewerk! Allerdings stellten die Sägewerksbesitzer noch Leute ein, das Geschäft ging gut, denn man brauchte Stollenbretter für die Kohlegruben und Dielen für die Schützengräben.
An einem Aprilsonntag dann hatte ihn Caspar zu sich einbestellt!
Er war zuvor schon einige Male nach diesem denkwürdigen ersten Besuch bei ihm gewesen, immer im Schutz der Dunkelheit, denn offenbar wollte Caspar nicht, dass dieser Kontakt bekannt wurde. Nur Friedrich hatte davon gewusst, der ihn begleitete, auf ihn wartete und auf dem Nachhauseweg immer wieder mit misstrauisch gerunzelter Stirn fragte: »Was will er denn bloß von dir?« Das hätte Johannes so genau gar nicht sagen können. Immerhin hatte er die Genugtuung, seine Taugenichtsbilder schön gerahmt in der so genannten Stube hängen zu sehen, einem kleinen Raum, in dem sich eine Nähmaschine und ein Stickrahmen befanden und in dem sich vornehmlich Frau Caspar aufhielt. Die, eine stille, scheue Frau, hatte ihm mit leiser Stimme gedankt und ihm gesagt, wie gut ihr die Bilder gefielen. Johannes war ganz rot geworden dabei und er errötete noch mehr, als ihm der Herr Oberlehrer ein großes rundes Geldstück in die Hand drückte und dabei etwas von »sehr zufrieden« und »vielversprechend« murmelte. Johannes hatte noch etwas auf der Seele gelegen und sein offensichtliches Zögern war Caspar aufgefallen. »Na los, wo drückt der Schuh, bist du mit der Bezahlung nicht einverstanden?«
»Doch sehr, Herr Oberlehrer. Es ist mehr als genug. Vielen Dank. Es ist nur so – vielleicht könnten sie mir etwas weniger Geld geben und dafür ... dafür könnte ich das Buch behalten?«
Caspar hatte ihn damals mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck angesehen und dann nach einer – wie Johannes schien – endlos langen Zeitspanne geantwortet: »Also den ›Taugenichts‹ willst du haben?« Und als Johannes stumm nickte, hatte er bemerkt: »Gefällt dir wohl, was? Das ist schön. Behalt ihn nur.« Und dabei hatte er leicht den Kopf geschüttelt.
Bei den wenigen Besuchen, die auf diesen zweiten folgten, hatte er mit Johannes einige dickleibige Bücher betrachtet, ausnahmslos Darstellungen der »Großen Meisterwerke der Kunst«, wie auf den Einbänden stand. Er hatte Johannes mancherlei erzählt über die Maler und die Zeit, in denen die Bilder jeweils entstanden waren, und Johannes hatte es sehr in den Fingern gejuckt. Er wollte die Bilder am liebsten sofort abzeichnen, um zu erspüren, zu erkennen, wie der Maler vorgegangen war. Aber er wagte nie, eine entsprechende Bitte zu äußern. Das hätte nämlich bedeutet, dass ihm Caspar die Bücher nach Hause hätte mitgeben müssen, nach Hause in die Stadtmühle, unvorstellbar! Trotzdem hatte Johannes dankbar erkannt, dass ihn Caspar mit den bescheidenen Mitteln fördern wollte, die ihm zur Verfügung standen.
Bei seinem letzten Besuch kurz vor Ostern hatte Caspar dann keines der dicken Bücher vom Regal geholt, er war vielmehr in der guten Stube mit den
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