Beerensommer
eine riesige Schüssel gebracht, handgeschabte Spätzle von Christine mit einem freundlichen Gruß. Der Besuch des Großvaterhäuschens und des »alten Kastens« ist auf morgen verschoben worden. »Vater hat Probleme auf einer Baustelle, Wasser in der Baugrube. Kein Wunder bei dem Sauwetter.«
Es regnet tatsächlich seit dem gestrigen Abend ununterbrochen. Die Wipfel der Fichten biegen sich unter einem stürmischen Wind, der den Regen gegen die Fensterscheiben klatscht. Von den gegenüberliegenden Bergen steigen weiße Nebelschwaden auf, die sich im grauen Dunst verlieren.
»Der Johannes hat den Kindern immer erzählt, das sei Rauch. Die Hasen im Wald kochen jetzt gerade das Essen. Die Anna, deine Großmutter, hat felsenfest daran geglaubt und wollte immer hinauflaufen, um den Hasen zuzusehen. Sie hat sich immer ausgedacht, was die wohl essen. Ich hab’s auch geglaubt, als kleines Mädchen. Wahrscheinlich hat man das allen Kindern hier erzählt.« Gretl hat leise gelacht, als sie ihr beim Frühstück diese Geschichte erzählt und dabei den Schlüssel zum Großvaterhaus neben die Tasse gelegt hat. »Wenn du schon einmal alleine hinaufgehen möchtest ...?«
Aber Anna hat abgelehnt. Irgendwie fürchtet sie sich immer noch davor. Vorläufig reicht ihr das, was sie liest. Sie fürchtet sich, dass die Vergangenheit plötzlich zu konkret werden könnte, im Moment reicht ihr die Vorstellung davon. Wie der Urgroßvater vom Tod des kleinen Wilhelm schreibt, das hat sie sehr mitgenommen. Immer wieder stellt sie sich den kleinen Jungen auf dem Sterbebett vor, sieht die Tränen der verzweifelten Mutter und denkt an Friedrich.
Johannes meinte, bei Wilhelms Tod sei etwas in Friedrich zerbrochen. »Und er ist mir auf eine seltsame Art fremder geworden. Da war etwas in ihm, das fortan den innersten Kern seines Wesens ausmachte, und da kam ich nicht mehr heran. Ich glaube, damals hat er diesen Schwur getan, diesen merkwürdigen Schwur, von dem er mir später erzählt hat, viel später. Mein Leben hat die Begegnung mit dem Tod ebenfalls verändert. Ich bin ihm nämlich später im Krieg tausendfach begegnet, in allen Gestalten, und ich kann die Bilder bis heute nicht vergessen.«
Anna fröstelt. Die Begegnung mit dem Tod ... Darüber weiß sie Bescheid. Aus der Umlaufbahn geschleudert, Absturz ins Bodenlose. Irgendwie ist sie immer noch im freien Fall. Und jetzt wieder Tod! Auf einmal fällt ihr ein, dass sie noch gar nicht nach den Gräbern gefragt hat. Auf dem Friedhof in Grunbach liegen sie doch alle – Johannes und Marie, die alte Marie, und Anna, ihre Großmutter, und wahrscheinlich auch die Weckerlins, Friedrich und der kleine Wilhelm mit seinem Holzpferdchen, das mit ihm vermodert ist. Sie schämt sich. Dass sie das einfach vergessen hat. Gleich nachher wird sie Gretl danach fragen.
16
Johannes lehnte sich an eine der schlanken, gusseisernen Säulen, die in regelmäßigen Abständen das Vordach des Grunbacher Bahnhofs trugen. Er spürte die Kälte des Metalls in seinem Rücken. Es war ein kühler Maimorgen im Jahr 1915 und an diesem Morgen nieselte es unaufhörlich, seit er die Stadtmühle verlassen hatte. Das blonde Haar klebte am Kopf und er strich vorsichtig die ungebärdigen Strähnen aus der Stirn. Er musste einen guten Eindruck machen an diesem Tag, denn es war sein erster Tag als Lehrling in der Goldschmiede- und Uhrenfabrik Armbruster in Pforzheim.
Schräg gegenüber standen drei Infanteristen in feldgrauer Uniform, junge Männer aus dem Dorf, die wohl zum Heimaturlaub in Grunbach gewesen waren. Drei ältere Frauen waren dabei, sie weinten unentwegt und wischten sich immer wieder mit einem Zipfel ihrer schwarzen Schürzen über die Augen. Auch die jungen Soldaten wirkten bedrückt, einer rauchte fahrig eine Zigarette, die er dann schon nach wenigen Zügen wegwarf und mit dem Absatz seines Stiefels ausdrückte. Drei Soldaten warteten mit ihren Müttern gemeinsam auf den Zug nach Pforzheim. Dort würden sie dann weiterfahren nach Karlsruhe und von dort aus nach Metz und dann irgendwohin an die Front. Vielleicht nach Ypern oder Beccelaere oder Pretz, Orte, von deren Existenz Johannes und alle Grunbacher nichts gewusst hatten, die aber jetzt eine besondere Bedeutung erlangt hatten. Es waren die Orte, an denen die ersten Grunbacher gefallen waren in diesem Krieg, der schon neun Monate dauerte.
Dreißig Gefallene waren bis jetzt in Grunbach zu beklagen und von der anfänglichen Begeisterung war nichts mehr übrig
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