Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
Vom Netzwerk:
hatte er sie immer wieder aus der Ferne gesehen, so wie man die älteren Schüler registriert, mit einer Mischung aus Bewunderung und Gleichgültigkeit. Sie war groß und mager, ein unscheinbares Mädchen mit eckigen Bewegungen, das immer die Mundwinkel nach unten gezogen hatte, als ob es gleich zu weinen begänne.
    Frau Weckerlin hatte einmal zu Friedrich gesagt, das käme sicher daher, dass ihre Mutter so früh gestorben sei. Es sei nicht gut für ein junges Mädchen, wenn es ohne Mutter aufwachse, hatte sie gemeint. Louis Dederer bemühe sich zwar sehr, kaufe ihr alles und behänge sie mit schönen Kleidern, aber das könne eine Mutter nicht ersetzen.
    Schlimmer noch als Lisbeths Verdrießlichkeit waren ihre Augen, seltsam hervorquellende Augen, die ihr schon früh die Beinamen »Frosch« und »Glotzbeth« einbrachten. Auch Friedrich hatte ihr einige Male diese Worte hinterhergerufen, hatte ohne nachzudenken eingestimmt in den Chor der Gehässigkeiten, die Lisbeth Dederer ertragen musste. Später hatte er sich dafür geschämt.
    Dann hatte Lisbeth die Schule abgeschlossen und war in die Handelsschule nach Neuenbürg gegangen, wie er gehört hatte, und danach half sie ihrem Vater im Büro. Ob sie ihn erkannt hatte, sich gar noch daran erinnerte, dass Friedrich auch zu denen gehört hatte, die sie verspottet hatten, wusste er nicht.
    Sie verharrte für einen Augenblick in der Tür und musterte völlig ausdruckslos das Bild, das sich ihr bot. Dann ging sie, ohne Friedrich in irgendeiner Weise Beachtung zu schenken, mit raschem Schritt hinüber zu ihrem Vater und nahm ihm die Schnapsflasche weg. »Du sollst doch nicht so viel trinken, Vater«, sagte sie, aber sie sagte es ohne jede innere Anteilnahme, sagte es auf wie einen Spruch, den sie auswendig gelernt hatte und den man ab und zu von ihr zu hören erwartete.
    Ihr Vater schien das Wegnehmen der Flasche gar nicht registriert zu haben. Heiser kichernd hob er den Zeigefinger und deutete auf Friedrich. »Da, der junge Weckerlin, nimm ihn auf die Lohnliste! Er schafft ab dem ersten Mai bei uns. Er kriegt zwanzig Pfennige die Stunde, zwanzig Pfennige.« Dabei schlug er dröhnend auf die Tischplatte, »um der alten Zeiten willen! Und jetzt geh mit ihm hinüber zum Übele, der soll ihm alles zeigen.«
    Im Hinausgehen hatte Friedrich noch gesehen, wie er eine weitere Schnapsflasche aus einem anderen Seitenfach seines Schreibtisches holte und sich immer noch kichernd eingoss. Auch Lisbeth musste es gesehen haben, aber sie sagte nichts, sondern bedeutete Friedrich mit einer Kopfbewegung, er solle ihr folgen.
    Sie war etwas ansehnlicher geworden, hatte er festgestellt, als er hinter ihr die steile Treppe hinuntergegangen war. Hatte eine paar Rundungen an den richtigen Stellen bekommen und ihr Haar, dick und blond, zu einem lockeren Knoten hochgebürstet, war wirklich schön. Nur die Glubschaugen, die waren immer noch da und die blieben auch.
    Aber diese Überlegungen hatten nur einen Augenblick gedauert, viel wichtiger war die Zahl gewesen, die Louis Dederer genannt hatte: Zwanzig Pfennige in der Stunde! Das war viel Geld für einen ungelernten Arbeiter. Hoffentlich blieb der Dederer dabei, wenn er wieder nüchtern war. Friedrichs Gedanken hatten sich überschlagen – einige Monate, Jahre hart gespart, das würde irgendwann den Auszug aus der Stadtmühle bedeuten, hinaus aus dem muffigen, kalten, feuchten Loch, das Wilhelm den Tod gebracht hatte. Und dann? Aber weiter wollte er nicht denken. Einen Schritt nach dem anderen musste man tun! Und er war hinter Lisbeth Dederer gegangen, hatte halb unbewusst ihren hohen, geraden Rücken betrachtet und immer wieder an ein Wort gedacht: Möglichkeiten!
    Er hatte dann den Franz Übele kennengelernt, den Vorarbeiter, und sich gedacht, dass selten ein Name so auf den Träger passte wie in diesem Fall. Auf den ersten Blick machte dieser Übele einen ganz angenehmen Eindruck, er war etwas untersetzt, kräftig und ein mächtiger Schnurrbart zierte sein Gesicht – aber von diesem Mann ging etwas aus, das Friedrich nicht richtig deuten konnte! Er wusste jedenfalls auf Anhieb, dass dieser Übele ihm von Herzen unsympathisch war. Übele hatte Lisbeth mit derber Vertraulichkeit begrüßt und Friedrich dabei abschätzig gemustert.
    »So, so, Weckerlin heißt du«, er dehnte den Namen absichtlich, als läge eine tiefere Bedeutung darin.
    Friedrich merkte, wie er rot wurde, und er ballte insgeheim die Fäuste. »Ja, so heiße ich. Etwas dagegen

Weitere Kostenlose Bücher