Beerensommer
zu früh in die Quere zu kommen, denn es schien ihm, als begegnete dieser ihm mit immer größer werdendem Misstrauen.
Gerade in diesem Moment tauchte Übele oben am Sägeraum auf und schrie ihm etwas zu. Wahrscheinlich gefiel es ihm nicht, dass Friedrich seine Arbeit noch nicht aufgenommen hatte, zudem nutzte er jede Gelegenheit, ihm eins auszuwischen. Betont langsam ging Friedrich hinüber zum Polderplatz und setzte seine Arbeit fort. Das Abhobeln der großen Baumstämme war eine mühselige und körperlich sehr anstrengende Tätigkeit.
Übele kam herübergeschlendert. Wenn er langsam ging, konnte man sehen, dass er das rechte Bein etwas nachzog. Lisbeth hatte Friedrich erzählt, dass er einmal einen schweren Arbeitsunfall gehabt hatte, seitdem hinkte er. Er mühte sich sehr, diese Behinderung zu überspielen, immerhin hatte sie ihm die Einberufung zum Militär erspart. Heute schien er schlechte Laune zu haben, das Bein zog er deutlicher nach als sonst, und er hatte einen Strohhalm im Mund, auf dem er verdrossen kaute. »Schafft sorgfältiger, Leute, die Gattersäge ist heute zum zweiten Mal verreckt! Der Brunner holt morgen die Bretter, bis dahin muss alles fertig sein.«
Die Arbeiter blickten nicht auf, aber ihr leises Murren war deutlich zu vernehmen. Die meisten von ihnen waren ausgemergelt und unterernährt. Sie waren zu alt, um am Krieg teilzunehmen, hatten schon ein entbehrungsreiches und arbeitsames Leben hinter sich und litten jetzt wie alle unter diesem Krieg, der Hunger brachte und Sorgen. Einige hatten noch die Familie des Sohnes mitzuversorgen, wie zum Beispiel der alte Hannes, der irgendwo bei diesem verfluchten Verdun hockte, von dem man jetzt so viel hörte, allerdings nichts Gutes.
Und zur Sorge kam die Angst. Einige Grunbacher waren schon gefallen und jeden Sonntag las der Herr Pfarrer neue Namen von Toten, Vermissten und Gefangenen vor. Friedrich kannte ihre Gedanken, saß zwar etwas abseits, wenn sie beim kargen Vesper zusammenhockten, aber er hörte genau zu, wenn sie die Ängste und die Sorgen in Worte zu kleiden versuchten. Richtig dazu gehörte er nicht, einmal wegen seiner Jugend und dann war er in den Augen der Arbeiter irgendwie auch anders, manche sagten sogar »etwas Besseres«, trotz seiner abgetragenen und geflickten Kleider.
Friedrich beobachtete aus den Augenwinkeln den Vorarbeiter, der immer noch auf dem Polderplatz stand und demonstrativ zu ihm herüberblickte, immer auf der Suche nach etwas, womit er ihn schikanieren konnte.
Friedrich aber sah hinter Franz Übele etwas viel Wichtigeres, er sah das weiße Schindelhaus mit der großen Veranda, mit dem hohen, spitzen Giebel in der Mitte, sah die breit ausladende Front des Sägewerks gegenüber, wo in der so genannten Wanne die dicken Baumstämme wie träge Nilpferde im Wasser auf und ab schwappten. Das war der Reichtum seiner Heimat und das war auch seine Zukunft. Er war am richtigen Platz!
18
Johannes sprang mit einem Satz aus dem hohen Waggon hinunter auf den grauen Steinboden des Bahnsteigs. Der Zug setzte sich langsam ruckelnd in Bewegung. Er war jetzt schon ausgestiegen, eine Station früher, und er nahm den längeren Weg gerne in Kauf, um am Fuß des Eibergs durch den Wald zu gehen. Der Wald fehlte ihm, er vermisste den Geruch, der jetzt im Herbst modrig und erdig war, und er vermisste die Geräusche, das sanfte Rauschen der Baumwipfel, das jetzt gerade allerdings unter dem stürmischen Herbstwind stärker und auch bedrohlicher klang. Im Sommer ging er den langen Weg von Pforzheim nach Grunbach oft zu Fuß, nicht zuletzt um das Fahrgeld zu sparen.
Aber jetzt im Herbst wurde es zu früh dunkel. Wenn er in der großen Fabrik mit den hohen Fenstern saß, die alles draußen hielten außer dem Licht, das man für die Arbeit brauchte, packte ihn manchmal eine solche Sehnsucht nach dem Wald, dass ihm Tränen in die Augen stiegen und er den Kopf tief über seinen Arbeitsplatz beugen musste, damit die anderen nichts davon mitbekamen. Jetzt müsste man hochlaufen können zum Meistern, zum Kälbling oder am liebsten zum Eiberg, zu seinem geliebten Katzenbuckel! Stattdessen musste er hier sitzen neben einem Dutzend anderer Lehrlinge, überwacht vom strengen Meister, dem Herrn Wackernagel. Der war eigentlich ganz freundlich, hielt aber seine Lehrlinge unerbittlich zu guter Arbeit an und bemerkte jede noch so kleine Abweichung, jeden noch so kleinen Fehler sofort und mahnte ihn an. »So wird das nichts, Johannes«, pflegte er zu
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