Beerensommer
stand und ins Dunkel starrte, hin zu einer imaginären Stelle, wo er das Wehr vermutete, in dem sich der Körper des Vaters verfangen hatte. Plötzlich erfüllte Johannes wieder dieses tiefe und warme Gefühl einer bedingungslosen Zusammengehörigkeit.
»Komm, wir gehen weiter«, sagte er leise. »Es ist ja gar keine so große Überraschung, einmal musste es so kommen! Mein Jahrgang ist dran, das weiß man doch. Wie hat’s die Ahne aufgenommen?«
Sie schritten langsam durch die tiefdunkle Herbstnacht, über dem dunklen Bergrücken des Meistern war ein schmaler Sichelmond aufgezogen.
»Du kannst dir’s wohl denken, heult die ganze Zeit. Heute Mittag wollte sie aufs Rathaus laufen. Sie sei auf dich angewiesen, man könne dich nicht so einfach fortschicken. Mutter hat sie festgehalten und beruhigt. Sie ist jetzt bei ihr.«
Johannes seufzte. Vor der Begegnung mit der Ahne hatte er Angst. Er sah sie vor sich, wie sie sich an die Bibel klammerte, ihren letzten Halt im Leben. Nein, nicht ganz der letzte Halt, das war er, ihr Großneffe Johannes Helmbrecht! Vor achtzehn Jahren hatte sie ihn aufgenommen, den Bastard, den Schandfleck, den unehelichen Sohn der Anna Helmbrecht, ihrer Nichte. Die ehrbare Jungfrau und Dienstmagd Babette Helmbrecht hatte ihn an ihre Seite genommen, Teil ihres kümmerlichen Lebens werden lassen, hatte ihn aufgezogen, durchgefüttert und mit ihm zu überleben versucht. Sie hatte ihm Milch gekauft und Kleider für ihn erbettelt, hatte getan, was notwendig war, diese kleine, gebückte Gestalt im schwarzen Umschlagtuch. Er hatte es ihr gedankt mit einer stetigen, unerschütterlichen Zuneigung, hatte sich ihrer wohl manchmal geschämt, wenn die Dorfbuben »alte Hexe« hinter ihr hergerufen hatten, aber er hatte sich dann auch sogleich dieser Scham geschämt und half ihr seit frühester Jugend. Er schleppte die Wäschekörbe treppauf und treppab und stand an den großen Waschzubern, wo er mit den großen hölzernen Stecken die Wäschestücke um und um rührte. Und jetzt, wo die Zeit gekommen war und er für die Ahne sorgen musste, ihr Stütze und Halt sein musste im Alter, worauf sie sich stets verlassen hatte, jetzt musste er in den Krieg und kam vielleicht nie wieder!
Er konnte die Ahne in ihrer Verzweiflung gut verstehen. Und vielleicht war da auch so etwas wie Zuneigung. Zärtlichkeiten und Koseworte hatte es nie gegeben, das war im Leben der Ahne ein unbekannter und überflüssiger Luxus. Aber irgendwie gehörten sie doch zusammen.
Mitten in seine Gedanken hinein sagte Friedrich zögernd: »Bestimmt ist der Krieg bald vorbei, du machst noch deine Ausbildung und wirst dann wieder nach Hause geschickt. In Russland gibt es gerade eine Revolution, da geht alles drunter und drüber. Du wirst sehen, unsere Truppen werden in den Westen abgezogen und im Frühjahr ist alles vorbei. Dann gibt es eine große Offensive ...«
»Ach, hör doch auf mit deinen Offensiven, dauernd verspricht man uns Offensiven, aber es tut sich nichts und wir haben nur wieder Tausende von Toten. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass seit dem Frühjahr auch die Amerikaner im Spiel sind, denk daran, wie viele Leute die haben und wie viele Waffen! Und dann die Engländer mit ihren neuen Panzern und den Flugzeugen, die den Tod auch hierher tragen.«
Friedrich kickte wütend einige Kieselsteinchen zur Seite. Johannes ahnte schon lange, dass Friedrich immer noch an einen deutschen Sieg glaubte, dass er immer noch an die »Möglichkeiten« glaubte, die ein solcher Krieg bot. Er war immer wieder darüber erstaunt, wie verbohrt Fritz sein konnte. In diesem Moment stieß dieser wütend hervor: »Ich wollte, ich wäre an deiner Stelle!«
Johannes war entsetzt: »Das ist doch nicht wirklich dein Ernst! Hast du vergessen, was die berichten, die aus dem Krieg heimgekehrt sind? Hast du die Verwundeten vergessen, mit den leeren Ärmeln oder Hosenbeinen oder noch schlimmer, die, die vom Gas blind geworden sind?«
Eine Weile schwiegen beide. Friedrich konnte nichts dagegen sagen, das wusste Johannes. Er hatte recht und vor seinem Auge tauchten wieder die Bilder auf, die ihn jeden Tag verfolgten. Er sah die zerlumpten und abgemagerten Kinder vor sich, die in Pforzheims Straßen bettelten, er sah die langen Schlangen vor den Stellen mit den Lebensmittelausgaben, sah Menschen, die gekrümmt vor Hunger gingen und sich wegen ein paar Steckrüben prügelten, und er sah hohlwangige Frauen, die sich scheu in den Straßenecken herumdrückten
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