Befehl von oben
aus konnte Ryan Hunderte – nein, Tausende von Menschen sehen.
Die wollen alle mich sehen? fragte er sich. Verdammt. In den Händen hing über dem Zaun das Rot-Weiß-Blau vieler Fähnchen, und als die Maschine stand, kamen sie hoch wie eine bunte Welle. Die fahrbare Gangway wurde an die Tür geschoben, die vom weiblichen Steward geöffnet wurde – es wäre unkorrekt, sie eine Stewardeß zu nennen –, die ihm eine Zigarette geschenkt hatte.
»Wollen Sie noch eine?« flüsterte sie.
Ryan grinste. »Vielleicht später. Und danke, Sergeant.«
»Hals- und Beinbruch, Mr. Präsident – aber nicht auf den Stufen, ja?«
Ein Lachen belohnte sie.
»Bereit für den Boß«, hörte Price über Funk vom Leiter des Vorausteams, dann nickte sie Ryan zu.
»Showtime, Mr. President.«
Ryan holte tief Luft, stellte sich in die Mitte der Tür und blickte ins helle Sonnenlicht des Mittelwestens.
Das Protokoll sah vor, daß er als erster und allein hinabsteigen sollte.
Er hatte sich kaum in der Öffnung gezeigt, als Jubel ertönte. Den Mantel zugeknöpft, das Haar glattgekämmt und gegen seine Einwände festgesprayt, schritt Jack Ryan die Stufen hinunter und kam sich mehr wie ein Narr als ein Präsident vor, bis er am Fuß der Treppe war. Dort grüßte ihn ein Oberstabsfeldwebel der Air Force, und Ryan, gedrillt im Marine Corps, salutierte zurück – und wieder stieg Jubel auf. Er blickte sich um und sah überall Sicherheitsbeamte postiert, die fast alle nach draußen schauten. Als erster näherte sich ihm der Gouverneur.
»Willkommen in Indiana, Mr. President!« Er ergriff Ryans Hand und schüttelte sie heftig. »Es ist uns eine Ehre, Gastgeber für Ihren ersten offiziellen Besuch zu sein.«
Man hatte alle Register gezogen. Eine Kompanie der Indiana Guard stand Ehrenspalier. Die Band schmetterte ›Ruffles and Flourishes‹, danach ›Hail to the Chief‹, und Ryan fühlte sich als Hochstapler. Den Gouverneur links hinter sich, ging Ryan den roten – was sonst? – Teppich hinab. Die Truppe präsentierte das Gewehr und neigte kurz die Regimentsstandarte, nicht aber die Flagge. Stern-und-Streifen, hatte ein amerikanischer Athlet mal erklärt, verneigt sich vor keinem irdischen König oder Potentaten, als er dies 1908 für den König von England tun sollte. Daß er Irisch-amerikaner war, tat nichts zur Sache. Jack legte die Rechte übers Herz – Jugenderinnerungen! –, als er die Flagge passierte, und betrachtete die Aufstellung der Guardsmen. Jetzt war er ihr Oberster Befehlshaber, konnte sie ins Feld entsenden; da mußte er ihre Gesichter sehen. Glattrasiert, jung, stolz waren sie, wie er es vor rund zwanzig Jahren gewesen wäre. Sie waren hier für ihn. Und er hatte stets für sie dazusein. Yeah, sagte sich Jack. Das muß ich mir merken.
»Darf ich Ihnen einige Bürger der Gegend vorstellen, Sir?« fragte der Gouverneur und wies auf den Zaun. Ryan nickte und folgte.
»Aufgepaßt, Fleischpresse«, rief Andrea in ihr Funkmikro. Auch wenn die Agenten des Detail dies schon zum x-tenmal sahen, war es ihnen am allermeisten zuwider. Price würde immer bei POTUS sein.
Raman und drei weitere umgaben ihn zu beiden Seiten, überflogen die Menge mit Blicken hinter dunklen Sonnenbrillen, suchten nach Waffen, nach der falschen Miene, nach von Fotos bekannten Gesichtern, nach allem Außergewöhnlichen.
Es waren so viele, dachte Jack. Kein einziger hatte ihn gewählt und bis vor kurzem nicht einmal seinen Namen gekannt. Doch sie waren hier. Einige hatten als Staatsbedienstete vielleicht einen Tag freibekommen, aber nicht die mit Kindern in den Armen, nicht alle. Die Blicke in ihren Augen machten den Präsidenten sprachlos, da er noch nie in seinem Leben etwas Ähnliches erlebt hatte. Hände streckten sich ihm eifrig entgegen, und er schüttelte alle, an die er herankam, bewegte sich nach links an der Linie entlang und versuchte, einzelne Stimmen aus dem wirren Geschrei herauszuhören.
»Willkommen in Indiana!« – »Wie geht's?« – »MISTER PRESIDENT« – »Wir vertrauen Ihnen!« – »Gute Arbeit bisher!« – »Wir sind für Sie!«
Ryan versuchte zu antworten, brachte es aber zu kaum mehr als wiederholten Dankeschöns. Hauptsächlich stand sein Mund offen vor Überraschung vom überwältigend warmen Empfang. Es ließ ihn den Schmerz in der Hand vergessen, aber schließlich mußte er vom Zaun zurücktreten und winken, was ein weiteres Jubelgeschrei für den neuen Präsidenten auslöste.
Verdammt. Wenn sie nur
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