Begegnung in Tiflis
sich an die Schulter und rollte zur Seite, weg von Bettina. Dann lag er auf dem Rücken, und sein ganzer Leib zitterte, und seine Beine schlugen auf den Plankenboden.
»Vater!« schrie Bettina und kniete neben ihm. Sie riß ihm die nasse Jacke und das Hemd vom Körper und sah den Einschuß in der linken Schulter. Ein großes Stück Fleisch war weggerissen, und das Blut strömte aus der Wunde, wie Wasser aus einer Felsenquelle.
Auch Gawril kroch heran. Noch war es nicht sicher, ob die Sowjets nachgaben und abdrehten und den sicheren Fang laufenließen. Ein leichtes war es, das Fischerboot in das Meer zu schießen, es mit zwei oder drei gutgezielten Granaten zu zerfetzen. Die Diplomaten würden dann schon alles regeln, am Verhandlungstisch sah alles anders aus, denn wer will einen Krieg, nur weil ein Fischerkahn versenkt wurde? Ein paar scharfe Noten gibt es, ein paar Proteste – doch sie sind nur Papier, das man abheftet und verstauben läßt. Sinnlose Worte, über die man lacht, denn nichts steht hinter diesen Protesten, keine Strafe, keine Repressalie, keine Vergeltung. Nur leere, tönende Worte sind's. Das Ansehen in der Welt? Pfeif was drauf! Nicht auf das Ansehen kommt es an, sondern auf den Beweis der Macht! Und in einer Woche ist doch alles vergessen. Diplomatische Noten sind kurzlebiger als ein Alkoholrausch. Manchmal glaubt man, daß sie daraus überhaupt erst geboren wurden.
Aber das sowjetische Kanonenboot schoß nicht. Es drehte ab und rauschte mit voller Kraft zurück in die neutralen Gewässer des Kaspischen Meeres.
»Er verblutet!« schrie Bettina, als sich Gawrils Kopf um das schützende Ruderhaus schob. »Die Schulter hat's ihm aufgerissen! Er ist schon ohnmächtig!« Sie hatte den Kopf Kolkas in den Schoß gelegt, ihre Bluse heruntergerissen und drückte den Stoff auf die sprudelnde Wunde. Wenig half es, wie ein Schwamm saugte sich die Bluse voll, und bald lief Bettina das Blut über die Hände und Unterarme und über die Schenkel.
Gawril rannte herum und suchte seinen Medizinkasten. Verbandszeug hatte er immer an Bord, denn oft kommt es vor, daß sich jemand an der Harpune verletzt, an den Ankerketten, an den Netzhaken, an der Winde. »Zum Teufel, wo ist der Kasten?« schrie er und warf alles auf Deck, was er in einer großen Kiste neben dem Ruder fand. Altes Ölzeug, Leinen, Stiefel, Ketten und zerbrochene Netzschwimmer aus Kork. Erstaunlich war's, was sich so alles ansammelt in einer einzigen Kiste, das Ruderhaus war fast voll von alten Sachen. Endlich stieß Gawril auf die Bordapotheke, lief mit ihr zu dem besinnungslosen Kolka und warf die blutnasse Bluse über Bord, die Bettina noch immer gegen die große Wunde preßte.
»Eine schöne Scheiße ist das!« sagte Gawril, als er dicke Lagen Zellstoff auf den Einschuß legte. »Aber keine Sorge, Töchterchen, nur eine Fleischwunde ist's. Er wird es überleben. Ein Loch wird er vielleicht in der Schulter behalten. Na ja, irgend etwas muß er ja als Erinnerung mitbringen von Mütterchen Rußland.«
Sie waren mit dem Verbinden so beschäftigt, daß sie nicht merkten, wie ein Ruderboot der iranischen Wachschiffe bei ihnen anlegte und drei Matrosen und ein Offizier an Bord kletterten. Erst als sie um das Ruderhaus herumkamen, blickte Gawril auf und stieß Bettina an.
»Nun sind wir wirklich gerettet«, sagte er. »Gott hat uns beschützt.«
Und in der Art russischer Bauern bekreuzigte er sich, ehe er sich wieder zu Kolka wandte und ihm ein Fläschchen mit Riechwasser unter die Nase hielt.
Bettina aber lächelte, und gleichzeitig weinte sie dabei, und sie gab dem iranischen Offizier die Hand, die rot und klebrig von Blut war.
*
Gawril Andrejewitsch Kokurin sahen sie nicht wieder.
Es gab keinen Abschied von ihm, nicht einmal einen Dank konnten sie ihm sagen. An der Küste wurden sie getrennt. Kolka kam in ein Militärlazarett, Bettina folgte ihm, und Gawril, so sagte man ihnen, hatte man nach einem kurzen Verhör freigelassen und auf eine Bestrafung wegen Verletzung der Grenze verzichtet. Er wollte eine mondlose Nacht abwarten, um sich dann im Schatten der Küste wieder nach Nordosten zu schleichen, zurück in sein Dorf, zu seiner Frau, den Kindern und den anderen deutschen Kameraden, die Russen geworden waren und glücklich dabei lebten.
Im Marinelazarett von Rescht wurden Kolka und Bettina über eine Woche lang verhört, ehe man sie weitertransportierte nach Täbris, der alten, herrlichen Teppichstadt. Dort waren sie Gast eines Generals,
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