Begegnung in Tiflis
es eine Beleidigung, sagt man nein, hat man restlos verspielt. Mit solchen rhetorischen Fragen werden im Wahlkampf Millionen Stimmen gewonnen … aber das gehört nicht hierher. Das ist ein anderes Gebiet, das man ›Mottenfraß der deutschen Demokratie‹ nennen könnte.
Paul Andresen, nicht gewandt im Stil Bonner Diplomaten, sondern ein schlichter Copilot, der englisch funken und auf einem Radarstrahl reisen konnte, hob die Schultern, was der Ministerialdirektor aus Bonn als ein Nein auffaßte. Auch dieses Vorwegnehmen der Meinungen ist ein beliebter Satz deutscher Politiker und Beamter.
»Na also«, sagte der Mann aus Bonn jovial, »man muß nur den richtigen Standplatz haben. Was haben Sie für die nächste Zeit vor, Herr Andresen?«
»Ich werde nach Göttingen zu Frau Wolter fahren«, antwortete Andresen schlicht.
Der Ministerialdirektor aus Bonn seufzte tief und verließ den störrischen Piloten. Von der Direktion ließ er sich die Personalakten zur Überprüfung mitgeben. Man würde in Bonn einmal seine Vergangenheit aufrollen. War sein Vater in der SPD, wäre ja alles klar …
So fuhr also Andresen trotz versteckter Drohungen nach Göttingen und fand den Laden von Agnes Wolter verschlossen. Von den Nachbarn erfuhr er, daß Frau Wolter in Bonn bei ihrem Sohn sei, dem Oberleutnant Wolfgang Wolter. Wo? Einen Augenblick … sie hatte doch eine Karte geschrieben. Ja … hier … Konradweg 11. Zweite Etage. Eine entzückende Neubauwohnung, schreibt sie.
Andresen fuhr sofort von Göttingen nach Bonn. Spät am Abend traf er auf dem Bahnhof ein, für den sich jeder Bonner schämt, weil an ihm das Wirtschaftswunder spurlos vorbeigegangen ist, und ließ sich mit einer Taxe hinaus zum Neubaugebiet, zum Konradweg 11, bringen.
Wolfgang und Irene Brandes saßen vor dem Fernsehapparat und ließen deutsche Schlagerkultur über sich ergehen, als Andresen schellte und Agnes Wolter ihm öffnete.
Was im Flur bereits gesprochen wurde, hörten Wolfgang und Irene nicht, aber plötzlich schreckte sie ein Aufschrei hoch, und Agnes Wolter kam ins Zimmer gerannt, die Arme hoch erhoben, als ersticke sie.
»Bettina lebt!« rief sie schrill und fiel dann in die Arme Irenes. Wolfgang war zur Flurtür gerannt und prallte dort mit dem an zwei Stöcken humpelnden Andresen zusammen. »Sie lebt …«, stammelte Agnes Wolter. »Er … er hat sie selbst gesehen.«
Es dauerte einige Minuten, bis sich die Erregung gelegt hatte, Andresen auf dem Sofa saß, das Fernsehgerät abgestellt war und Irene Bier zur Erfrischung servierte. Dann konnte Andresen erzählen, und er fing ganz von vorn an … von dem Flug Karatschi – Teheran – Ankara, dem Blitzschlag im Flugzeug, der mißglückten Notlandung in Tiflis und der brennenden Hölle, der sie entronnen waren.
Ohne ihn zu unterbrechen, hörte ihm die Familie Wolter zu. Erst als Andresen sagte: »So, nun bin ich hier, um Ihnen die volle Wahrheit zu sagen«, löste sich der Bann, den seine Erzählung in den Raum gezaubert hatte. Ein Bann, der mit vielen Fragen durchsetzt und der in Schrecken gebettet war.
»Es war bestimmt Betti?« fragte Wolfgang Wolter, der als erster wieder Worte fand.
»Ja. Unverkennbar.«
»Und ein Mann war bei ihr?«
»Ein Russe. Unverkennbar ein Grusinier. Ein hübscher Kerl, mit einem Gebiß wie ein Reklameschild für Zahnpasta.« Andresen trank einen tiefen Schluck Bier. »Sie waren sehr verliebt.«
»Was soll man davon halten, Wolf?« fragte Agnes Wolter leise. »Was ist das für eine Welt? Der Russe in Rolandseck sagt, sie sei in Moskau. Die deutschen Behörden bringen einen Sarg mit ihrer Leiche. Und nun fährt sie Karussell und hat einen Bräutigam. Was ist wahr?«
»Warum sollte ich lügen?« fragte Andresen zurück. »Wäre ich – sobald ich laufen konnte – zu Ihnen gekommen, nur um Ihnen einen Bären aufzubinden? Wozu? Ich hielt es für meine Pflicht, die volle Wahrheit zu sagen. Vielleicht werde ich noch deswegen von der DBOA entlassen.«
»Wir glauben Ihnen voll, Herr Andresen«, sagte Wolfgang laut. »Ich werde versuchen, durch die Staatsanwaltschaft den verlöteten Zinksarg öffnen zu lassen, um festzustellen, was man uns da aus Tiflis geschickt hat. Eines ist gewiß: Bettina ist es nicht! Dafür haben wir uns aber ein anderes Problem eingehandelt: Wer ist der schöne Mann, mit dem Bettina Karussell fuhr? Sie war verliebt, sagen Sie.«
»So etwas sieht ein Mann.« Andresen lächelte traurig. Er hatte Bettina heimlich sehr verehrt.
»Soll das nun
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