Begegnung in Tiflis
der sich dreimal hintereinander die Lebensgeschichte Kolkas erzählen ließ, als sei es eine Fortsetzung von 1001 Nacht. »Ein modernes Märchen«, sagte er denn auch. »Kaum zu glauben. Was ein Krieg so alles möglich werden läßt. Und was haben Sie jetzt vor?«
Der General sprach ein gutes Französisch, und Bettina dolmetschte. Kolka hatte den Blutverlust überstanden. Man hatte ihm eine Kochsalzinfusion gemacht und drei Tage lang einen Traubenzucker-Dauertropf an die Armvene angeschlossen, bis er wieder so kräftig war, daß er fluchen und schimpfen konnte, vor allem mit einem jungen iranischen Sanitäter, der ihm die ›Ente‹ so ungeschickt unterschob und anlegte, daß er das Bett näßte.
Die Wunde war harmlos, das sah man jetzt. Ein großes Fleischstück war weggerissen worden, denn die Kugel aus dem überschweren MG war schräg durch die Schulter gegangen, ohne einen Knochen anzukratzen. Ein wenig eitern würde es vielleicht, und schmerzhaft war es auch, aber Kolka nahm es mit Humor.
»Bin ich eine Nackttänzerin, die ein Loch an der Schulter geniert?« lachte er. »Oha, Töchterchen, kräftig genug bin ich schon, daß ich weiterkann nach Deutschland.«
Aber so einfach war das nicht. Denn mit dem Betreten des Bodens einer sogenannten ›freien Welt‹ – war sie frei?, man wird es noch erleben, Freunde! – kam die neue, große, bisher unterdrückte Sorge zu ihnen: Was war mit Dimitri geschehen? Wo lebte er? War ihm der Sprung in den Westen gelungen?
»Ich werde in Beirut anrufen lassen«, sagte der iranische General, nachdem er von Bettina auch die wunderliche Geschichte ihrer Liebe zu Dimitri Sergejewitsch Sotowskij erfahren hatte. »Hafis müßte noch leben! Unser großer Dichter Hafis. Ein Gedicht würde er auf Sie machen, Mademoiselle, und es würde ein unsterbliches Gedicht werden.« O ja, galant war der General. Welcher Orientale ist es nicht in Gegenwart einer so schönen Frau wie Bettina.
Aber die Telefonate mit Beirut waren ergebnislos.
In der deutschen Handelsmission sagte man ganz deutlich, daß von einem Russen Sotowskij nichts bekannt sei. Es hätte sich keiner gemeldet, und ein Aktenvermerk sei auch nicht zu finden.
Bitte schimpft nicht, Freunde, auf diese Deutschen. Was jetzt hier geschah, war bloß ein großer Irrtum. Der Mann in der Telefonzentrale, mit dem Sotowskij wochenlang sein Frage-und-Antwortspiel getrieben hatte – »Hier Sotowskij!« – »Nichts!« – war in Urlaub gefahren. Für zwei Monate nach Deutschland. Seine Mutter wurde 75 Jahre, seine Schwester brauchte ihn als Paten für das vierte Kind, sein jüngerer Bruder rief nach ihm als Trauzeugen. Man sieht, ein volles Programm. Sein Ersatzmann aber kannte keinen Sotowskij, denn Dimitri hatte in der letzten Woche nicht mehr angerufen. Das ewige ›Nichts‹ drückte ihn nieder. Es klang in seinen Ohren wie ›tot‹. Und das war das letzte, womit er sich abfinden wollte. So vergrub er sich in die Hoffnung, daß es doch noch einmal heißen würde: »Ja, sie sind hier!« Aber er rief acht Tage lang nicht an, aus Angst, wieder das schreckliche ›Nichts‹ zu hören.
Wer konnte wissen, daß gerade in diesen acht Tagen ein General aus Täbris anrief?
Und der Beamte, mit dem Dimitri gesprochen hatte, war ebenfalls verreist. An die Küste. Zum Schwimmen. Auch Beamte haben ein Recht auf Luft und Sonne, Sand und hübsche Mädchen. Der richtige Ausgleich ist's.
So fand man also keinen Aktenvermerk über einen Dimitri Sergejewitsch Sotowskij und sagte die volle Wahrheit: »Hier ist uns nichts bekannt.«
Also, bitte, schimpft nicht immer auf die Deutschen!
»Wie kann man das verstehen?« sagte Kolka ratlos zu dem iranischen General, als das Telefonat mit Beirut sogar schriftlich, wie ein Protokoll, vor ihm lag. »Dimitri hat damals die sowjetische Öldelegation verlassen und wollte sich unter den Schutz der Deutschen stellen.«
»Vielleicht ist er gar nicht geflüchtet?« wagte der General zu sagen. Kolka bekam rote Ohren, und Bettina legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm.
»Kennen Sie meinen Sohn Dimitri?« fragte Kolka dumpf.
»Natürlich nicht.«
»Das rettet Sie vor einer Ohrfeige, General!« O nein, Kolka hatte keine Hemmungen. Nie hatte er sie gehabt, und er war immer gut damit gefahren. Und ungeheuer schwer war es nun für ihn, sich umzustellen auf westliche Formen, wo man höflich und verbindlich ist, eine gute Erziehung demonstriert und unter dem Mäntelchen der Ehrlichkeit genauso lügt und betrügt
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