Begegnung in Tiflis
Junge, ich erkenne dich … die gleichen Haare, die gleichen Augen … Mein lieber, großer Junge …«
Und dann umarmten sie sich, drückten sich aneinander, und Karl Wolter weinte, so sehr er sich dagegen wehrte. Er unterlag seinem Herzen und heulte laut, und auch Wolfgang Wolter weinte und schämte sich nicht und fühlte sich wie der kleine Junge, der gefallen war und mit blutendem Knie nach Hause läuft und voller Kummer ist.
Dimitri drehte sich zum Fenster und blickte hinaus zu dem Fischereihafen. In seinem Herzen saß eine schwere Kugel. Jetzt hat er seinen Sohn, dachte er. Und ich habe einen Vater verloren. Ich war der Sohn des Kolka Iwanowitsch Kabanow, aber dort steht jetzt der Karl Wolter. Und es ist eine andere Welt als die von Tiflis, in der wir so glücklich waren.
Er senkte den Kopf und schloß die Augen.
Nun war es geschehen. Der große, gefürchtete Augenblick war gekommen: Dimitri Sotowskij hatte keine Heimat und keinen Vater mehr.
»Komm!« sagte eine leise Stimme hinter ihm. Bettina legte beide Arme um seinen Hals und küßte Dimitri auf die Schläfe. »Komm, jetzt gehörst du völlig zu uns.«
Dimitri erhob sich und drehte sich um.
Karl Wolter und Wolfgang standen nebeneinander, und sie sahen sich ähnlich, ohne Zweifel. Dimitri lächelte schwach. So betrachtet man ein Pferd, das man gekauft hat, dachte er. Ist es gesund? Ist es kräftig genug? Hat es nicht den Rotz? Gleich kam jemand, schob ihm die Lippen hoch und wies seine Zähne vor. Gesund! Kein Belag. Ein guter Kauf, mein Lieber …
»Mein Sohn Dimitri Sergejewitsch«, sagte Karl Wolter laut, und Dimitri zuckte zusammen. Mein Sohn … Kolka, altes, gutes Väterchen … bin ich noch dein Sohn?
»Komm her, Dimitri«, sagte Wolter sanft. »Das hier ist dein Halbbruder Wolfgang. Und du, Wolfgang« – Wolter wandte den Kopf zu seinem Sohn – »siehst hier meinen Dimitri. Er wird unsere Betti heiraten, und wir alle werden glücklich sein.«
Wolfgang Wolters Gesicht war kühl und verschlossen. Er lächelte nicht, als er Dimitri die Hand entgegenstreckte. Es war nur so, als habe sein Vater ihm wie früher befohlen: Nun gib schon die Hand, du Muffel!
Ein Russe, dachte er. Ein Russe mein Bruder, das werde ich weder begreifen noch akzeptieren. Ein Genosse Borokins in unserer Familie, das wird unmöglich sein. Man wird es Vater noch klarmachen müssen … später, wenn sich alles eingelaufen hat, wenn er wieder ein normaler Mensch geworden ist durch die Realität der Gegenwart und durch die Liebe der Mutter, und nicht mehr ein grusinischer Bär, der so handelt, wie er im Augenblick fühlt.
»Ich begrüße Sie«, sagte Wolfgang steif.
»Unter Brüdern sagt man du«, warf Karl Wolter ein.
»Ich begrüße dich«, sagte Wolfgang gehorsam. Sie drückten sich die Hand, aber nur eine Sekunde, dann zogen sie sie zurück, als wäre es schon zuviel an Sympathie.
»Isch bin glücklich zu liebän Wanduscha«, sagte Dimitri in seinem harten, holprigen Deutsch. Wolfgang hob die Augenbrauen.
»Wer ist Wanduscha?«
»So nennt er Bettina«, warf Karl Wolter ein.
»Warum? Bettina ist ein guter deutscher Name, den man auch als Russe aussprechen kann.«
Das klang stolz und war wie das Einrammen eines Grenzpfahles. Bis hierher … dahinter beginnt der Kampf.
Karl Wolter und Bettina wechselten einen schnellen Blick. Wolfgang sah ihn nicht, aber Dimitri, und er lächelte schmerzlich.
»Setzen wir uns und trinken wir Tee«, sagte Wolter heiser. »Meine Beine werden schwach. Das Wiedersehen, die Freude, die Erwartung … ich bin ein alter Mann geworden, Wolf. Du hast keinen Vater mehr, der Bäume ausreißt.«
»Das habe ich auch nie von meinem Vater verlangt«, sagte Wolfgang Wolter und lachte. Aber es war ein kläglicher, gequälter Humor. So herrlich es war, einen totgeglaubten Vater wiederzuhaben – plötzlich war das Zurück an einer Mauer abgestoppt, die niemand sah, aber jeder spürte: Die Mauer einer Entwicklung in der Welt, von der Kolka zwischen seinen kaukasischen Bergen verschont geblieben war. Die neue Zeit hatte andere Begriffe, sie dachte in Blöcken. Hier der Westen, dort der Osten … zwei Meere, die nie zusammenfließen konnten.
Warum? Diese Frage stellte niemand.
Und das nach einem Krieg, der 55 Millionen Tote gekostet hatte.
Ist der Mensch wirklich noch das Abbild Gottes?
*
Drei Tage später flogen Karl Wolter, Bettina, Wolfgang Wolter und Dimitri Sergejewitsch Sotowskij mit einer deutschen Maschine nach Deutschland.
Dimitri
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