Begegnung in Tiflis
Agnes und Karl, als begänne jetzt erst ihre wahre Ehe.
»Es ist nicht die Schuld Deutschlands«, sagte der Beamte auf dem Versorgungsamt, als Karl Wolter mit dem Brief kam und fragte, was so ein Blödsinn solle, »daß Sie zwanzig Jahre in Rußland waren und seit zehn Jahren für tot gelten.«
»Ist es meine Schuld?« meinte Wolter.
»Sie hätten vielleicht schreiben können«, erklärte der Beamte.
»An wen? Man schrieb mir, meine Frau und die Kinder seien bei einem Bombenangriff umgekommen.«
»Sie hätten sich davon überzeugen müssen.«
»Von Rußland aus!« Karl Wolter atmete tief aus. »Es ist ja so einfach, nicht wahr? Man wendet sich an die Auskunft und fragt: Forschen Sie mal nach, ob eine Agnes Wolter in Göttingen noch lebt? Und die Natschalniks in Sibirien haben nichts Eiligeres zu tun, als das festzustellen.«
Der Beamte sah konsterniert an die Decke. Welch ein Ton? In einer Demokratie! Pfui!
Es war ein junger Beamter, kaum älter als Wolfgang Wolter, und als der Krieg zu Ende war, hatte er noch mit Murmeln auf den Straßen gespielt. Jetzt war er Beamter auf Lebenszeit. Freunde, das ist mehr als ein König! Könige können gestürzt werden, ein Beamter nie.
»Man kann in Ihrem Fall die Bestimmungen des Spätheimkehrergesetzes anwenden«, sagte der Beamte mit begrenztem Wohlwollen. »Sie können – auf Antrag – eine Entschädigung erhalten. Allerdings wird sie nicht so hoch sein wie die gezahlte Witwenrente. Die Differenz müssen Sie dann zurückerstatten. Da ist in einem Rechtsstaat nun nichts mehr zu diskutieren. Ordnung muß ja Ordnung bleiben.«
Karl Wolter nickte. Noch einmal sah er den jungen Beamten an und er konnte ihm keinen Vorwurf machen. Was wußte er vom Krieg? Was konnte er von Sibirien wissen? Er war aufgewachsen auf dem fruchtbaren Boden des sogenannten Wirtschaftswunders, er hatte immer einen gedeckten Tisch erlebt, ein warmes Bett, die Sorglosigkeit eines biederen Bürgers. Er hatte nie Fischmehl in heißem Wasser gefressen, Regenwürmer gebraten und aus frischem Frühlingsgras Spinatersatz gehackt. Er kannte keine fünfunddreißig Grad Kälte in der Steppe. Er war nie zu Fuß vierhundert Kilometer durch die kirgisische Steppe marschiert. Er hatte die Mittelschule besucht, ein Butterbrot mit Schinken in der Schultasche. Und was früher gewesen war, kannte er nur aus Romanen und den blassen Erzählungen seiner Lehrer.
Und doch kam in diesen Minuten der alte Kolka Iwanowitsch Kabanow wieder in ihm hoch. Mit der Faust schlug er auf den Tisch und brüllte, wie damals in dem schwankenden Boot des guten Fischers Agafonow.
»Nichts werde ich zurückzahlen! Gar nichts! Soll meine Frau dafür bestraft werden, daß ich lebe, daß ich wiedergekommen bin? Hätte ich lieber in Rußland bleiben sollen, he?«
Der junge Beamte bekam einen roten Kopf. Und dann sagte er etwas, was Karl Wolter explodieren ließ: »Bitte, benehmen Sie sich! Sie sind hier bei einer Behörde und nicht in der Steppe.«
Kolka Iwanowitsch – denn das war Wolter jetzt wieder – warf an die Wand, was er fassen konnte: die Akten, die Bleistiftschale, einen Locher, ein Töpfchen mit Leim, einen Aschenbecher und den Papierkorb.
Dann ging er endlich, weggeführt von zwei Polizisten, die von der Stenotypistin im Nebenzimmer alarmiert worden waren.
»Mein Gott, Vater«, sagte Wolfgang, als Agnes ihm den Auftritt im Rathaus erzählte. »Das bringt dir eine dicke Klage wegen Beleidigung und Sachbeschädigung ein.«
»Am Arsch können sie mich alle lecken!« schrie Wolter zurück. »Große Lust hätte ich, mit euch allen zurück nach Tiflis zu fahren! Wenn zwei Weltkriege nicht vermochten, den deutschen Amtsschimmel zu ändern … diesem Volke ist nicht mehr zu helfen!«
»Man muß Geduld haben, Mutter«, sagte Wolfgang leise, als Karl Wolter wütend weggegangen war. Er hatte Dimitri mitgenommen und Bettina. Er mußte an die Luft, er erstickte fast in dieser Enge seines neuen Lebens. »Er braucht eine lange Zeit, bis er sich wieder im Westen eingewöhnt hat.«
»Ob er es jemals wieder kann?« fragte Agnes zweifelnd. »Wie ein Raubtier geht er herum. Mein Gott, mein Gott, sagte er immer wieder, das ist ja alles gegen jede Logik. Ihr lebt ja wie die Strauße – mit dem Kopf im Sand. Ist denn so etwas möglich?« Agnes sah ihren Sohn nachdenklich an. »Ich fürchte fast, Vater hat recht.«
»Das gibt sich. Der Schock der Heimkehr, das Leben hier, das er wie ein Paradies ansehen muß … es ist alles zu viel auf
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