Begegnung in Tiflis
sogar einen Platz für ihn in der besetzten Maschine, indem man einen Reisenden umbuchte für den folgenden Flug. Agnes Wolter lag zu Hause im Bett. Wie gelähmt war sie. »Karl …«, sagte sie immer und starrte ein altes, vergilbtes Bild an, das sie in den Händen hielt. 1944 stand auf der Rückseite. Karl Wolter nach seiner Beförderung zum Feldwebel. Die neuen Litzen glänzten sogar auf dem Foto. Ein junger, fröhlicher, etwas schmächtiger Mann, ein Jungengesicht, wie es jetzt bei Wolfgang, seinem Sohn, wiederkehrte.
Zweiundzwanzig Jahre ist das her, jetzt ist er fünfzig, dachte Agnes Wolter. Wie sieht er jetzt aus? Und dann weinte sie wieder und konnte es gar nicht begreifen, daß es wahr war. Karl kam zurück. Nach zwanzig Jahren Tod, an den sie nie geglaubt hatte.
Und dann bekam sie Angst. Auch ich bin alt geworden, dachte sie. Als er damals wegging nach seinem Urlaub, war ich ein junges, hübsches Frauchen. Und was ist daraus geworden? Runzeln habe ich, und weiße Haare, und die Jahre sind in mir eingegraben wie Ringe in den Bäumen. Er wird mich nicht mehr erkennen, oder er wird entsetzt sein, daß er eine so alte Frau besitzt. Seine Erinnerung wird mich so sehen wie damals … blond und lustig und schlank … und ihm entgegen kommt eine Greisin.
O Gott, o mein Gott, laß in seinen Augen nicht das Entsetzen stehen. Ich würde es nicht überleben.
Aber auch diese Stunden gingen vorüber. Während Wolfgang Wolter in Rom umstieg, saß Agnes Wolter beim Friseur, und Irene Brandes, erfahren in solchen Künsten, überwachte die kosmetische Verwandlung Agnes Wolters in eine reife, hübsche, dem Leben zugewandte Frau.
Die Haare wurden blondiert, Gesichtsmasken wurden ihr aufgelegt, Augenbrauen gezupft, die Nägel gefeilt und poliert, das zu ihr passende Make-up ausgesucht. Als sie nach einem langen Nachmittag, müde und schlapp, den Kosmetiksalon verließ, erkannte sie sich kaum noch in der hübschen Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegensah.
»Wie man einen Menschen verwandeln kann«, sagte sie leise.
»Was man aus einem Menschen machen kann … das klingt besser.« Irene Brandes faßte Agnes Wolter unter. Sie lachten sich im Spiegel an, blinzelten sich zu, und aller Druck, alle Sorge wich aus Agnes Wolters Herzen. »Ich bin stolz auf eine so attraktive Schwiegermutter!« sagte Irene Brandes. »Gebe Gott, ich sähe mit achtundvierzig Jahren noch so aus wie du.«
»Und was wird Karl sagen?« fragte Agnes und sah das ihr fremde Spiegelbild an.
»Da er ein Mann ist, wird er dich glücklich in die Arme nehmen.«
»Nach zwanzig Jahren …« Agnes Wolter wandte sich ab. »Ich habe Angst wie ein junges Mädchen.«
Wie wenig ahnten sie alle von dem Mann, der zurückkehrte und im Herzen Kolka Iwanowitsch Kabanow war.
*
Karl Wolter, Dimitri und Bettina saßen in dem schmalen, schmuddeligen Frühstückszimmer des Hotels Melusine und tranken Tee, als Wolfgang Wolter hereinstürzte. Er riß beinahe einen Kellner um, der gelangweilt die Bestecke sortierte und sich über die drei einsamen Gäste ärgerte, die ihn beschäftigten.
»Betti!« schrie Wolfgang schon in der Tür. Er sah Bettina als erste und breitete die Arme aus. »Betti!« Und dann starrte er auf den alten Mann an ihrer Seite, auf diesen runden Schädel mit den eisgrauen, kurz geschnittenen Haaren, und sein Herz wurde schwer, seine Beine bekamen Bleifüße, die nächsten Meter bis zum Tisch dehnten sich ins Unendliche.
Vater. Das ist also mein Vater. Das ist Vater … Vater … Vater …
Bettina stieß einen hellen Schrei aus, sprang auf und rannte Wolfgang entgegen. Mitten im Raum fielen sie sich in die Arme, küßten sich, und der arabische Kellner ging zur Klappe, die in die Küche führte, und bestellte noch einen Tee.
Langsam erhob sich Karl Wolter. Vor seinen Augen tanzten die Tische und Stühle. Die Sonne brannte in seinem Nacken, als läge ein brennendes Scheit auf seinem Hals. Die Kehle war trocken wie Wüstensand.
Mein Junge, dachte er. Das ist er also … mein großer Junge. Als ich ihn das letzte Mal sah, trug er Lederhosen und fing Frösche. Fünf Jahre war er alt, ein blonder Lockenkopf. Mein Sohn. Wie groß er ist, wie breit, wie männlich. Zwanzig Jahre … an ihm sieht man sie. Er ist gewachsen wie ein Baum auf bestem Boden.
»Vater!« sagte Wolfgang laut. Er hatte sich von Bettina gelöst und kam nun zwei Schritte näher. »Vater …« Seine Stimme brach ab, sie schwamm einfach weg. »Ich … ich bin Wolfgang …«
»Mein
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