Begegnung in Tiflis
den ersten Minuten auch gar nicht, was man sagen sollte. Da läuft ein Mädchen nachts die Ölleitung entlang, flüchtet beim Anruf, wehrt sich wie eine Tigerin, und dann ist sie plötzlich ein wehrloses Täubchen und zittert und bebt und macht einem das Herz schwer mit den Tränen.
»Warum weinst du?« fragte Dimitri nach einer ganzen Weile stummer Betrachtung und einem zu nichts führenden Nachdenken. »Gebissen hast du wie ein Frettchen … sieh es dir an … meine Hand blutet.«
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Bettina leise. »Du hast dich auf mich geworfen wie ein angeschossener Bär.«
»Ich bin verantwortlich für die Ölleitung.« Dimitri Sergejewitsch stand auf und klopfte Gras und Erde von seinen Hosen. »Wer nachts hier entlangrennt, hat kein gutes Gewissen.«
»Ich habe eins, Genosse.« Bettina drehte den Kopf zurück und sah empor an Dimitri. Die Stiefel, die Stiefelhose, ein Pullover mit einem Rollkragen, darüber ein schönes, scharf geschnittenes Gesicht mit einem Kranz aus schwarzen Locken. Als er den Kopf jetzt etwas neigte, fiel das Mondlicht in seine Augen, und sie leuchteten wie geschliffene und polierte Glasperlen. Und als sie diese Augen sah, wich alle Angst aus ihr; sie setzte sich, raffte die zerrissene Bluse über der Brust zusammen und starrte hinauf zu den im Nachtschatten schwarzen Felsen. »Du wirst mich jetzt gehen lassen, nicht wahr, Brüderchen?« fragte sie leise.
Dimitri Sergejewitsch war etwas enttäuscht. Hundert langweilige Nächte liegen hinter einem, dachte er. Immer die gleiche Nacht, die gleiche Stahlröhre, die gleiche Meldung am Morgen: Keine Vorkommnisse, Genossen! Und nun erlebt man etwas – natürlich würde man das nicht melden, sondern ebenfalls langweilig am Morgen in den Bericht schreiben: Nichts Neues! –, ein schönes Vögelchen ist herbeigeflattert, man hat's gefangen, und jetzt soll man's wieder fliegenlassen, auf Nimmerwiedersehen, irgendwohin in die Berge … ein böser Gedanke ist das, man muß das zugeben.
»So einfach ist das nicht, Genossin«, sagte Dimitri. »Ein Protokoll müssen wir aufsetzen, das ist Vorschrift.«
»Ein Protokoll? Worüber?«
»Du hast die Ölleitung belästigt.« Dimitri lächelte freundlich. »Das gehört in das Berichtsbuch. Ich muß dich mitnehmen.«
»Und wenn ich mich weigere, Brüderchen?«
»Es ist schwer, mein Täubchen, sich gegen mich zu weigern.« Dimitri zog den Pullover gerade; ein peinlich ordentlicher Mensch war er, der in seinem Büro die Bleistifte der Größe nach geordnet in der Schale liegen hatte und nie vergaß, sich täglich zu rasieren, was allen denen mißfiel, die dazu zu faul waren, und das waren die meisten. »Mein Name ist Dimitri Sergejewitsch Sotowskij«, sagte er. »Ingenieur bin ich beim Tiflis-Ölkombinat. Es hat keinen Sinn, sich zu weigern.«
Bettina erhob sich. Dimitri stützte sie, und er tat es gern, denn er spürte ihre glatte, warme Haut, und als sie sich etwas schwach noch an ihn lehnte, atmete er einen verwirrenden Duft aus Heu, einem fremden Parfüm und süßlichem Schweiß, was ihn unruhig und befangen machte.
»Ich bin Wanda Fjodorowa«, sagte sie und wischte sich ein paarmal über die brennenden Augen. »Auf dem Weg zu Onkelchen Wanja bin ich.«
»In der Nacht?«
Dimitri gab ihr sein Taschentuch, sie putzte sich die Nase, er nahm das Tüchlein zurück und beschloß im Inneren, es nicht zu waschen, so verrückt war er plötzlich, der schöne Dimitri.
»Ich bin ein armes Mädchen.« Bettina hielt mit beiden Händen die zerrissene Bluse über der Brust zusammen, und die Schultern zog sie ein, als friere sie. »Eine lange Geschichte ist's, Dimitri Sergejewitsch. Mit dem Tode von Mamuschka beginnt sie, an einem Bluthusten starb sie, vor vier Jahren, auf dem Feld, neben dem Garbenbinder … und sie hört auf mit Dunja, dem zweiten Weibchen von Papuschka. Ein schönes, junges, wildes Weibchen, das er sich da genommen hat. Nicht viel älter als ich, aber ich mußte ›gnädiges Mütterchen‹ zu ihr sagen, bedienen mußte ich sie, ihr die Schürzen waschen und die Strümpfe flicken und Hemdchen bügeln. Und geschlagen hat sie mich … mit einem hölzernen Löffel, mit der Nagaika, mit einem Stock, an dem eine eiserne Spitze war, gestochen hat sie mich mit ihr, und es war die Hölle, Dimitri Sergejewitsch. Da bin ich weggelaufen, einfach weg nach Süden, zu Onkelchen Wanja, der in Tiflis wohnen soll. Und nun kommst du und überfällst mich wie ein Wolf und willst auch noch ein
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