Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Begegnung in Tiflis

Begegnung in Tiflis

Titel: Begegnung in Tiflis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
fängt man nachts an der Ölleitung ein flüchtendes Vögelchen, bringt es mit, hört sich eine Geschichte an, die einem die Tränen in die Augenwinkel drückt, man ist sogar bereit, sie zu glauben, weil das Vögelchen gar so schöne Augen hat und Wölbungen in der Bluse, die das Herzchen erfreuen – aber irgendwo, in einem Winkel des Verstandes, bleibt immer noch die Frage: Wie soll es weitergehen? Was machen wir morgen und übermorgen? Und nächste Woche? Und was am wichtigsten ist: Das Menschlein hat keinen Ausweis.
    Probleme sind das! Ein Mensch ohne Papiere ist kein Mensch. Ein richtiger Mensch ist registriert, hat seinen Platz in vielen Akten und Karteikarten. Ein Heer von Beamten beschäftigt sich mit ihm. Eine wichtige Person ist er. Denn wäre er nicht da und die anderen auch nicht, ich frage: Wer sollte dann die Beamten beschäftigen, he? Und wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt, muß man einen Ausweis haben. Mit einem Foto, einigen Stempeln, einer Unterschrift. Erst dann lebt man. Atmen allein genügt nicht … ein Irrtum ist's, Freunde … man muß einen Stempel bei sich tragen. Die Ordnung in der Welt erfordert das.
    An alles das dachten Dimitri und der alte Kolka, aber sie sprachen es nicht aus. Wanda Fjodorowa aß so hungrig das Rosinenbrot und trank so zierlich die Kirschenlimonade, daß es ein Frevel gewesen wäre, sie damit zu überfallen: Und wie wird es morgen?
    »Wir werden ihr ein neues Kleid kaufen«, sagte Kolka endlich, als Dimitri unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. »Söhnchen, du gehst in den Bazar! Sieh dir ihre Größe an, kauf etwas Gutes und komm sofort zurück. Paßt das Kleidchen, kann sie mitgehen und sich das andere kaufen.«
    »Sie sind so nett, Väterchen.« Bettina senkte den Kopf. »Aber wie soll ich es annehmen? Nicht einen Rubel habe ich.«
    »Und wie bist du nach Tiflis gekommen?« fragte Kolka. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Diese Sprache, dachte er. So redet kein Bauernweibchen, das nur Schweine getrieben und Kühe gemolken hat und an der Butterwanne stand und leise singend die Butter ausflocken ließ. Wie eine Studierte spricht sie, und auch aussehen tut sie wie ein Mädchen, das mehr gesehen hat als Misthaufen und springende Hähne. Verdammt noch mal, Kolka Iwanowitsch, das ist eine wichtige Frage, woher sie wirklich kommt.
    »Ohne Rubelchen geht man auf die Reise?« fragte er noch einmal.
    »Gebettelt habe ich, Väterchen. Drei Wochen lang gebettelt. Um von Dunja wegzukommen, hätte ich den Teufel rasiert.«
    »Sieh, Väterchen, welch ein erbarmungswürdiges Geschöpf!« rief Dimitri. »Ein Jammer ist's, diese Dunja nicht züchtigen zu können. Den Hals müßte man ihr umdrehen.«
    »Geh das Kleid holen, Dimitri!« sagte Kolka streng. »Mit Schwätzen kann sich keiner anziehen.«
    Dimitri rannte hinaus. Sein Kopf glühte. Das ist das Feuer der Liebe, dachte er. Oh, ich Glücklicher. Ein heiliges Feuer ist's! Wie schön sie ist, Wanda Fjodorowa! Und wie hilflos. Gebettelt hat sie, das arme Schwänchen. Und er rannte wie ein Stürmer auf einem Fußballplatz durch die Straßen zum Bazar, zu dem kasakischen Seidenhändler Luban Stepanowitsch Filowjew, und schrie schon in dessen Ladentür: »Brüderchen, ein Kleid brauche ich! Das schönste Seidenkleid von Tiflis! Mit großen Blumen und einem tiefen Hals. Sie kann's tragen, Luban Stepanowitsch. Oh, einen Busen hat sie! Aus Marmor, bei meiner Seele. Ich lüge nicht. Zeig mir ein Kleid, das eine Prinzessin tragen könnte!«
    Unterdessen hatte Kolka Iwanowitsch sein drittes Becherchen Kwaß getrunken, stopfte sich eine Pfeife, brannte sie an, paffte den Qualm gegen die Decke und faltete die Hände über dem zufriedenen Leib.
    »Erzähl mir aus deinem Leben, Wanduscha«, sagte er dann. »Ich bin ein neugieriger alter Mann. Alte Männer sind wie Marktweiber; sie können über einen Kohlkopf eine Stunde reden. Wo bist du zur Schule gegangen?«
    »In unserem Dorf, Väterchen«, sagte Bettina. Sie spürte, wie Gefahr von Kolka zu ihr herüberschlich. Wie ein klebriger Strom war es. Wie Leim, der über die Dielen rinnt und sie festkleben würde, wenn er sie erreichte.
    »Ein guter Lehrer, Töchterchen. War er strafversetzt aus der Stadt?«
    »Ich weiß es nicht. Wir nannten ihn Onkelchen Gurjan.«
    »Und du hast Mist gefahren und die Schafe geschoren?«
    »Nein. Ich war im Büro des Brigadiers für Weizen.«
    »Aha! Aha!« machte der alte Kolka und blies den Rauch wieder gegen die Decke. »So ist das. Und

Weitere Kostenlose Bücher