Begegnung in Tiflis
da geht man einfach weg wegen des Stiefmütterchens Dunja? Und bettelt sich bis Tiflis. Das ist ein merkwürdiges Leben, Töchterchen. Sind wir noch im achtzehnten Jahrhundert? Gibt es keine Post, kein Telefon, keinen Zug, kein Auto? Kann man Onkelchen Wanja nicht benachrichtigen? Muß man wie eine Ratte durch die Berge laufen? Erklär es mir mal, Wanduscha.«
Bettina atmete ein paarmal tief auf. In den grauen Augen Kolkas sah sie das Glimmen des Mißtrauens.
»Es ist alles so furchtbar«, sagte sie und begann schnell zu weinen. Eine Flucht war's, denn wer wagt es, wenn er ein fühlendes Herz in der Brust trägt, ein weinendes Mädchen weiterhin so scharf zu fragen?
Kolka Iwanowitsch Kabanow kaute an seinem Pfeifenmundstück. Zufrieden war er nicht mit der mageren Auskunft. Keine Logik war darin. Ein verliebter Tropf wie Dimitri, ha, der glaubte es, wenn man nur schön mit den Äuglein klappert. Aber einen alten Mann betrügen, dessen Herz im Eiswind Sibiriens zu Leder wurde, wer schafft das schon? Und als Kolka bei diesen Gedanken war, biß er heftiger auf seinen Pfeifenstiel.
Sibirien, dachte er. Das ist mein Geheimnis. Das weiß weder Dimitri, noch wußte es Mascha, Dimitris Mutter, als wir heirateten. Niemand weiß es. Aber so ist es. Jeder von uns trägt einen Packen Geheimnisse mit sich herum, und wenn wir sie alle ausschütteten, diese Säcke – die ganze Menschheit könnte man unter diesem Müll begraben.
»Nicht weinen, Wanduscha«, sagte er brummend. »Ein verheultes Weibchen sieht aus wie ein Schweinchen mit Rotlauf. Trink noch eine Limonade. Es ist ja schon gut … gut ist's, hörst du … die Welt ist eben voller Merkwürdigkeiten.«
Als Dimitri zurückkam vom Bazar, das Seidenkleid über dem Arm – denn Packpapier gab es nicht, man müßte es sonst mitbringen –, stand Wanda Fjodorowa am Spülbecken und säuberte das Geschirr. Der alte Kolka saß vor einem krähenden Grammophon und spielte Platten mit donnernden Chören. Aber sie waren verkratzt und so oft gespielt, daß der Gesang klang wie das Stöhnen einer Rinderherde vor der Tränke. Kolka störte das wenig; er kannte jeden Ton, und wenn er genug Wodka getrunken hatte, sang er oft mit. »Auch ich war einmal ein guter Sänger!« brüllte er dann, wenn Dimitri ihn bat, der Nachbarn wegen leiser zu grölen. »Soll ich mich schämen? Ha! Und jetzt den Stenka Rasin! Jetzt gerade! Eine gute Stimme ist ein Geschenk Gottes! Sollen wir lästern, Bürschchen?«
So einer war Kolka Iwanowitsch.
»Welch ein schönes Kleid«, sagte Bettina leise, als Dimitri es hochhielt, als wolle er es auf dem Markt anpreisen. »Viel zu schade ist es für mich.«
»Er hat versprochen, daß du darin aussiehst wie eine Prinzessin, der Luban Stepanowitsch«, rief Dimitri mit glücklich glänzenden Augen. »Zieh es an, Wanda Fjodorowa. Sieh nur, die großen Blumen. Mohn ist es! Ein Mädchen mitten im roten Mohn. Sie werden in Tiflis die Mäuler aufsperren.«
Und so war es auch.
Bettina zog das Kleid an, und als sie aus dem Nebenzimmer herauskam, vergaß Kolka an seiner Pfeife zu kauen, und Dimitri klatschte in die Hände und war sichtbar verwirrt.
»Ein Elfchen«, sagte der alte Kolka. »Ohne Zweifel ein Elfchen.«
Bettina drehte sich im Kreise. Oh, wie raffiniert war das. Das Kleid hob sich von ihren Beinen ab, ein schwingender Reifen wurde der Rock, der höher und höher kletterte bis zu den Schenkeln, und die Brüste zitterten unter dem dünnen Seidenstoff und drückten sich durch, als wollten sie das Gewebe zerreißen.
So etwas macht atemlos, Freunde. Das sind Feierstunden des Lebens. So etwas brennt sich ins Herz ein, unauslöschlicher als jede Tätowierung.
»Es ist Dummheit, heute schon zu Onkelchen Wassilij Iwanowitsch Tschigirin zu gehen«, sagte Dimitri, als Bettina wieder ruhig stand und das Mohnkleid in der Sonne leuchtete, die durch das Fenster fiel wie der Strahl eines grellen Scheinwerfers. »Sag es auch, Väterchen! Sie ist noch zu müde von der langen Reise. Erholen soll sie sich bei uns.«
»Sehr müde ist sie«, sagte der alte Kolka und grinste über seinem Pfeifenstiel. »Kaum bewegen kann sie sich vor Mattigkeit.«
Es wurde ein schöner Tag.
Nach dem Mittagessen, das Kolka wie immer kochte – heute gab es Rassolnike, eine Suppe aus Schweinenieren, Gurken und Sahne –, trank man noch eine Tasse Tee, und dann führte Dimitri stolz wie ein Pfau die schöne Wanda Fjodorowa durch Tiflis. Zuerst fuhren sie zum Verwaltungsgebäude des
Weitere Kostenlose Bücher