Begegnung in Tiflis
ruhig.
»Wo ist meine Mutter?«
»In Eisenach.«
»O Gott!« Irene preßte die Hände gegen ihre Brust. »Wann … wann kann ich sie abholen? Wo kommt sie herüber. Bei Bebra? Oder über Hersfeld?«
»Wo ist Wolfgang jetzt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie lügen! Sie bekommen Post von ihm.«
»Keine Karte!«
»Was hat er Ihnen erzählt über seinen Einsatz?«
»Nichts.«
»Irene, Sie kennen mich.« Borokin lächelte mokant. »Man kann mich mit dem nichtssagenden Wort Nichts nicht abspeisen. Sie sollten sich solche Dummheiten endlich abgewöhnen. Unter Verliebten redet man mehr, als es normale Menschen tun. Verliebtsein ist eine Art Rauschzustand. Was hat Ihnen Wolfgang über seinen Einsatz an der Zonengrenze erzählt?«
»Ich schwöre Ihnen – nichts!« Irene Brandes rang die Hände. Mutter, dachte sie. In Eisenach. So greifbar nahe und doch so fern wie auf einem anderen Stern. Wenn sie schon in Eisenach ist, heißt das, daß man sie freiläßt?
Borokin hob die Schultern. »Es muß ein merkwürdiges Liebesverhältnis zwischen euch herrschen«, sagte er anzüglich. »Geheimnisse bleiben geheim bis ins Bett. Das ist eine alte Weisheit.«
»Wir haben andere Themen, über die wir uns unterhalten«, sagte Irene Brandes hart.
»Bedauerlich. Sie machen in letzter Zeit viele Fehler, die ich von Ihnen bisher nicht gewöhnt bin.« Borokin umkreiste seinen Schreibtisch; er schien auf etwas zu warten, sah öfter auf das Telefon und dann auf seine Uhr. »Sie wissen also nicht, wo sich Wolter zur Zeit befindet?«
»Nein.«
»Und wenn Sie krank werden? Wenn seiner Mutter etwas passiert – wie wird er benachrichtigt?«
»Über das Ministerium, nehme ich an.« Irene hob die Schultern, sie wußte es wirklich nicht. »Wir haben diese Möglichkeit nie in Erwägung gezogen.«
»Aber Borokin denkt daran.« Jurij Alexandrowitsch lächelte zufrieden. »Nehmen wir an, Sie werden plötzlich sehr krank.«
»Ich fühle mich sehr gesund, Borokin.«
»Sie haben ein schwaches Herz, Irenuschka. Ihr Kreislauf ist labil. Sie bekommen einen Kollaps. Man muß Oberleutnant Wolter rufen … wie geschieht das wohl?«
»Über seine Dienststelle.«
»Versuchen wir es mal?«
»Nein!« sagte Irene Brandes laut. Sie warf den Kopf in den Nacken und preßte die schönen, vollen Lippen zusammen. »Ich spiele nicht mehr mit!«
Borokin wollte eine Antwort geben, aber das Telefon unterbrach ihn. Mit einem diskreten Schnarren zerriß es die wie mit Elektrizität geladene Stille. Die gepflegte Hand Borokins legte sich breit über den weißen Hörer.
»Meine Antwort …«, sagte er ruhig. »In fünf Minuten wollen wir uns weiter unterhalten.«
Er nahm den Hörer ab und blickte zur Decke, als er sich meldete.
»Das ist schön«, sagte er. »Ja, sie steht neben mir. Ich danke Ihnen, Genosse, daß alles so vorzüglich klappt.«
Er hielt den Hörer Irene hin und nickte ihr zu, als sie mit ungläubigen starren Augen auf die Hörmuschel blickte.
»Für Sie, Irene. Ein Ferngespräch.«
»Für mich? Hierher? Wolfgang …? Aber das ist doch nicht möglich.«
Mit steifen Beinen ging sie die drei Schritte bis zu Borokin und nahm ihm den Hörer ab. »Ja?« sagte sie, und ihre Stimme schwankte vor Erregung. »Ja? Hier Irene.«
Und dann fuhr es wie ein Schlag durch sie … sie schrie auf, umklammerte das Telefon mit beiden Händen, und Borokin schob ihr einen Stuhl hin und drückte sie an den Schultern auf den Sitz.
»Irene … Kind …« , klang ganz weit weg eine Frauenstimme. »Irene … hier ist Mutti …«
»Mutti …«, stammelte Irene Brandes. Ihr Kopf fiel nach vorn auf die Tischkante, aber sie hielt den Hörer am Ohr, und so lag sie mit der Stirn auf dem Tisch, hatte die Augen geschlossen und hörte die Stimme ihrer Mutter aus einem Land, das so nahe und doch so unendlich weit weg war. »Kind, wie geht es dir?« fragte die Stimme. »Bist du gesund? Ich habe gehört, du hast eine gute Stellung. Stimmt das?«
»O Mutti … Mutti …« Irene weinte laut. Sie richtete sich auf, sprang vom Stuhl, und die Tränen liefen ihr über das verzerrte Gesicht, während sie Borokin ansah, der sich eine Zigarette anzündete. »Wo bist du jetzt?«
»In Eisenach, mein Kleines. Ich soll bald freigelassen werden. Sie haben mir gesagt, daß alles ein Irrtum gewesen sei. Wie ich mich freue! Nur die Formalitäten dauern noch etwas.«
»Wie geht es dir?« Irenes Stimme war kaum hörbar, sie ertrank im Schluchzen. »War … war es schlimm?«
»So etwas fragt
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