Begegnungen (Das Kleeblatt)
nicht, was hier vor sich geht. Was … was machen sie mit ihm?“
„ Zunächst einmal werden sie ihn ruhigstellen.“
Wie aus der Erde gestampft stand ein Mann mittleren Alters hinter Susanne und Matthias. Auf den ersten Blick war nicht auszumachen, ob es sich bei ihm ebenfalls um einen Besucher oder um einen Mitarbeiter der Klinik handelte. Er trug zwar keinen Arztkittel, dafür jedoch ein Namensschild an seinem Jackett.
„Ruhig stellen?“ Wie ein Echo hallte dieses Wort wieder und wieder durch Suses Kopf, während Tränen stillen Protestes aus ihren Augen quollen. „Warum sollten sie ihn … Er hat niemandem etwas getan. Gar nichts, du kannst es bestätigen, Matt’n. Ich war bloß erschrocken. Es war dumm von mir, weil ich ihn erschreckt habe … und ich …“
Mit einem Ruck löste sie sich von dem Tisch, an den sie sich die ganze Zeit geklammert hatte. Bevor einer der Männer reagieren konnte, rannte sie den Flur entlang. Sie hörte weder das aufgeregte Kreischen der Patienten, noch achtete sie auf die überraschten Gesichter der Klinikangestellten, die sich ihr halbherzig in den Weg zu stellen versuchten. Wer wusste schon, was dieses kleine, zierliche Wesen vorhatte? Viel würde sie ohnehin nicht ausrichten. Vielleicht suchte sie lediglich nach einer Toilette.
Ab er Schock und Angst saßen derart tief in Suse, dass sie ihr ungeahnte Kräfte verliehen. Sie sah nur die Tür, die sich hinter ihrem Mann geschlossen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, die Klinke nach unten gedrückt zu haben. Und doch sprang die Tür wie von Geisterhand bewegt vor ihr auf.
Sie taumelte zurück.
Grelle Scheinwerfer waren auf die Pritsche in der Mitte des Raumes gerichtet. Adrian lag vollkommen bewegungsunfähig darauf festgebunden. Sie hatten ihm den Pullover vom Körper gestreift und auch die dunkle Brille abgenommen. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Einer der Pfleger überstreckte Adrians Kopf, bis sich sein Brustkorb nach oben bog und die Rippen überdeutlich hervortraten, dann presste er ihm eine Atemmaske über Nase und Mund. Adrians magerer Körper zuckte verkrampft unter den starren Lederriemen, ehe er schlaff in sich zusammensackte.
Sus anne wehrte sich nicht, als kräftige Finger ihre Oberarme umfassten und sie sanft, aber bestimmt umgedreht wurde. Wie betäubt ließ sie sich aus dem Raum schieben. Einer Marionette gleich bewegte sie sich vorwärts, gehalten von dem Fremden, der hinter ihr ging. Sie zuckte zurück, als sie an den Patienten vorbeikam, die neugierig ihre Köpfe reckten und sich kaum merklich immer weiter auf sie zu bewegten.
„Keine Angst, Frau R eichelt, sie tun Ihnen nichts“, redete ihr eine angenehm ruhige Stimme zu, die sie schon einmal irgendwo gehört hatte. Das zumindest glaubte Susanne, wenngleich sie sie nicht sofort einordnen konnte. Sie zwang sich mit Gewalt, den Blick von den Männern in der ausgewaschenen Krankenhauskluft abzuwenden und erkannte Matthias, der das Körbchen mit ihrem Baby auf einem Stuhl an der Wand hinter sich abgestellt hatte.
A h, der Herr Kapitän. Wer sagt ’s denn? Taucht immer im unpassendsten Augenblick auf. Was er wohl vorhat, dass er heute nicht diesen furchtbar kratzenden Uniformmantel trägt, sondern einen elegant geschnittenen, schwarzen aus Kaschmir. Ob sich die Wolle wohl so weich anfühlt wie die Haut des Babys?
Sie würde den Kapitän danach fragen. Vielleicht würde sie es tun. Später. Sie wollte ihn nicht anfassen.
„Es wird das Beste sein, wenn Sie sie jetzt nach Hause bringen, Herr Doktor Clausing. Momentan können wir nichts für Adrian tun. Ich werde … Es ist Weihnachten, ich weiß. Aber ich kann versuchen, es Ihnen zu erklären, wenn Sie …“, hörte sie erneut die fremde Stimme hinter sich.
„Es“, murmelte sie tonlos. „Es … tötet ihn.“
Mit einem Mal begann sie am ganzen Körper zu schlottern. Ihre Zähne schlugen derart laut aufeinander, dass sie alle anderen Geräusche übertönten.
Kraftlos glitt Sus anne aus den Händen des Unbekannten und sank ohnmächtig zu Boden.
22. Kapitel
Sie konnte die Berührung bereits spüren, noch ehe sich die Hand sacht auf ihre Schulter legte. Das klägliche Wimmern ihres Babys drang aus dem Kinderzimmer an ihr Ohr. Und die Spatzen schimpften aus voller Kehle mit den Meisen, die ihnen die Körner im Futterhäuschen auf der Wiese streitig machten.
Und dann war da noch diese Stimme, die ihren Namen flüsterte. Sanft, zärtlich und – tatsächlich!
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