Begegnungen (Das Kleeblatt)
– voll Liebe. Er ist Ire, wurde Suse in diesem Moment klar. Ein Ire genau wie ihr Mann, wenngleich er diese ihre Vermutung durch nichts bestätigt hatte und auch sein Name eher auf eine deutsche Abstammung schließen ließ. Sie konnte sich kaum etwas Wirkungsvolleres vorstellen, als in jenem butterweichen Gott-liebt-dich-Akzent beruhigt zu werden. Sie kannte ihn von Adrian.
Ich will nicht aufwachen, dachte sie trotzig und kniff die Augenlider fester zusammen. Ich will meine Ruhe. Und überhaupt wäre es am besten, nie mehr aufwachen zu müssen. Verschwinde, Clausing! Verschwindet ihr alle!
Es w ar besser so. Wann immer sie einen Menschen geliebt hatte, war er ihr auf grausame Weise entrissen worden. Ihre Freundin Cat war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, Simone Schill und Svend Berner waren im Atlantik ertrunken, obendrein wurde seit mehreren Monaten ihre Freundin Beate vermisst. Und jetzt würden sie Adrian mit ihren Spritzen töten.
Sie wollte dieses Baby nicht lieben! Sie durfte es einfach nicht tun. Vielleicht hatte es dann eine Chance zu überleben.
„Susanne, wach auf.“ Der Druck seiner Finger verstärkte sich, als er sie vorsichtig an der Schulter rüttelte. „Manuel hat Hunger. Er braucht dich.“
Was für ein kompletter Schwachsinn! Das war nichts weiter als die typisch männliche Hilflosigkeit , die ihn zu diesen Worten zwang. Niemand brauchte sie. Das Leben würde ohne sie weitergehen. Nicht eine Sekunde lang würde die Erde aufhören sich zu drehen, wenn ihre kleinen Füße nicht mehr darauf herum stapften. Es würde keine plötzliche Sonnenfinsternis geben. Keine Nilpferde in Uniform. Nichts!
So war es immer gewesen. Mittlerweile kannte sie sic h damit aus, zu oft hatte sie es erlebt. Jeder Mensch war ersetzbar, obwohl sein Verlust im ersten Moment in der Tat ein tiefes Loch in ein festes Gefüge riss. Irgendwann würde man das Fehlen dieses einen akzeptieren – man musste es akzeptieren, um nicht den Verstand zu verlieren – und damit beginnen, die entstandene Lücke mit Erinnerungen zu füllen, bis selbst diese verblassten. Gegen das Jetzt und Hier hatte die Vergangenheit keine Chance. Zwangsläufig rückten andere Menschen an die Stelle des Abwesenden, des Verschwundenen, des Verstorbenen.
Aber was wusste schon ein Doktoringenieur Clausing von ihrem Schmerz und den Verlusten, die sie erlitten hatte! Er kannte weder Angst oder Einsamkeit noch finanzielle Sorgen. Dieser Kerl hatte gut reden, nahm er sich doch einfach, was immer ihm wichtig erschien: schnelle Autos, luxuriöse Wohnungen, schöne Frauen. Und ohne Zweifel ersetzte er sie durch ein neues Spielzeug, wenn er ihrer überdrüssig wurde. Ein Matthias Emanuel Clausing war bloß zufrieden, solange er alles und jeden beherrschte und Befehle erteilen konnte wie ein junger Gott. Ein anderer Beruf, als Herr über Mensch und Material zu sein, war ihm vermutlich nie in den Sinn gekommen.
S ie dagegen würde ihm das Kommando über sich und ihr Leben nicht überlassen. Nein, ganz gewiss nicht! An ihr sollte er sich ruhig seine blendend weißen Zähne ausbeißen.
„ Susanne, ich weiß, du bist wach. Also mach endlich die Augen auf.“
Sie bemerkte den Luftzug, den Matthias mit einer hastigen Bewegung verursachte. „Hier, ich habe ihm etwas Tee zu trinken gegeben – ist leider nicht ganz nach seinem Geschmack, bisschen verwöhnt, wie? – und ihn gewickelt, natürlich nicht so perfekt wie du, allerdings …“ Seine Stimme wurde drängender, Suse glaubte sogar einen Hauch Verzweiflung darin zu hören. „Du musst dich um ihn kümmern! Stillen kannst nur du ihn.“
Oooh! Oh jaaa! Es gab also tatsächlich etwas, wozu der unfehlbare Herr Doktor nicht imstande war! Sieh an, sieh an, das war wirklich bemerkenswert! Dass ihr dieses winzige, indes alles entscheidende Detail entfallen konnte! Zu dumm! Wie mochte Matthias Emanuel das Wissen um seine Unfähigkeit – und sei es lediglich auf diesem einen ganz speziellen Gebiet – schmerzen.
Lass mich in Ruhe, M att’n! Mach endlich die Fliege!
Ihre Finger tasteten über das zappelnde Bündel, das jetzt an ihrer Seite auf der Bettdecke lag. Unauffällig rutschte sie ein Stück von ihm weg.
Nein, sie wollte einfach nicht mehr. Wie oft ertrug ihr Herz, auseinandergerissen zu werden? Die Narben darauf schmerzten schon viel zu sehr.
Sie spürte eine tröstliche Berührung, die sie zunächst nicht einordnen konnte. Und dann pressten sich weiche Lippen auf ihren Mund, drängend und
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