Begehrter Feind
zu.
Ewan zupfte Gisela am Ärmel. »Mama, wieso sagt er ›süßes Gänseblümchen‹ zu dir?«
Sie stand regungslos da und starrte auf die Tür, während sie lauschte, bis sie hörte, dass die Ladentür ins Schloss fiel. Endlich waren Ewan und sie allein.
»Mama?«
»Vor vielen Jahren waren Dominic und ich … sehr gute Freunde«, erklärte sie Ewan und ging mit ihm in den Küchenbereich zurück. »Damals nannte er mich immer so.«
»Wie sieht ein Gänseblümchen aus?«
Sie sah zu ihrem Sohn hinab, der sehr ernst dreinblickte. »Erinnerst du dich nicht an die Gänseblümchen, die im Gras neben unserem alten Zuhause wuchsen?«, fragte sie.
Ewan schüttelte den Kopf.
Gisela ahnte, dass er in Gedanken zu dem wunderschönen Herrenhaus zurückkehrte, in dem er, sie und Ryle gelebt hatten, ohne je eine richtige Familie gewesen zu sein. Ihre glücklichsten Momente waren die, wenn Ryle auf Reisen war, um seinen Tuchhandel zu bewerben. Dann verbrachten Ewan und sie sorglose Tage im Garten, spielten auf der Schaukel, die Gisela ihm in den Kirschbaum gehängt hatte, jagten einem Ball durchs Gras nach und zählten die Spatzen, die herbeigeflogen kamen, um die Krumen ihres Mittagessens aufzupicken.
Nein! Sie wollte heute nicht über ihr altes Zuhause sprechen.
»Mama …«
Gisela nahm das Messer und den Brotlaib auf. »Ich zeige dir ein Gänseblümchen.« Sie schnitt eine Brotscheibe ab, öffnete den Honigtopf und tunkte die Messerspitze hinein. Dann ließ sie einen dicken Honigtropfen auf das Brot fallen. »In der Mitte ist ein Gänseblümchen leuchtend gelb wie die Sonne«, erklärte sie. Anschließend nahm sie mehr Honig und malte damit die Blütenblätter. »Der Rest der Blume ist weiß.«
»Wie Schnee«, sagte Ewan. »Als draußen Schnee lag, mussten wir die Füße ganz weit hochheben, als wir zum Markt gegangen sind.«
Gisela lächelte. »Ja.« Sie schob ihm das Brot hin. »Gänseblümchen wachsen auf Wiesen und Feldern, wo viel Sonnenschein ist. Es sind sehr glückliche Blumen.«
Das hatte Dominic gesagt, als er die Blumenstengel ineinanderwand, um ihr eine Kette zu machen. Gisela verwahrte sie bis heute in ihrer kleinen Schatztruhe.
Ewan biss herzhaft in sein Brot. »Die mag ich bestimmt.« Dann wurde er nachdenklich. »Mama, glaubst du, dass Drachen Gänseblümchen fressen?«
»Ja, Knöpfchen«, antwortete sie traurig. »Das glaube ich.«
Kapitel 6
A m nächsten Morgen strahlte Sonnenschein durchs offene Fenster der Schneiderei, als Gisela auf ihrem Hocker saß und die Ärmel an das Kleid für die Schmiedfrau nähte. Zuvor hatte sie ihren Arbeitstisch von der Wand ans Fenster gerückt, um das Tageslicht zu nutzen. Auf diese Weise sparte sie Kerzen, von denen sie nicht mehr allzu viele hatte.
Eine warme Brise wehte über die Klappläden herein und brachte die Leinenhemden und Mädchenkleider zum Rascheln, die Gisela links und rechts von der Ladentür aufgehängt hatte. Von draußen hörte sie die knirschenden Schritte der Passanten, das Quietschen und Rumpeln der Fuhrwerke sowie Gesprächsfetzen. Irgendwo in der Nähe kreischten und kicherten Kinder, die auf der Straße spielten.
Gisela gähnte, und das nicht zum ersten Mal. Ihre nächtliche Arbeit rächte sich, denn sie hatte gestern Abend warten müssen, bis Ewan mit seinem Stoffritter im Arm eingeschlafen war, ehe sie mit ihrem Auftrag für Crenardieu hatte fortfahren können. Ihr kleiner Sohn hatte mit einem Arm unter seinen wilden Locken dagelegen, sein Holzschwert in der Hand, und sehr ernst erklärt: »Ich schlaf genauso wie ein Kreuzritter.«
Gisela hatte genickt, die Decke fester um ihn gezogen und bei ihm gelegen, bis ihm die Lider zugefallen und sein Atem langsam gegangen war. Danach schlich sie sich leise zurück in ihre Schneiderei, hob die Dielenbretter über dem Lagerraum hoch und nahm vorsichtig die kostbare Seide heraus. Beim Abmessen, Zuschneiden und Heften des schimmernden blauen Tuchs, dessen Farbe sie an den Sommerhimmel erinnerte, hatte sie weit mehr Kerzen verbraucht, als sie sich leisten konnte.
Nun riss Ewans Gebrüll sie jäh aus ihren Gedanken. »Ha! Hab ich dich, du dummer Drache! Hinfort mit dir, du Bestie mit faulig stinkendem Atem, oder du kriegst den Stahl meines Schwerts zu spüren!«
Lächelnd schüttelte Gisela den Kopf. Wie sehr er Sir Smug und den Drachen liebte, den sie ihm aus Stoffresten genäht hatte! Dem Klang nach wurde in ihrem Zuhause gerade eine erbitterte Schlacht ausgetragen.
Sie strich eine Falte
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