Begehrter Feind
Lederband umzulegen. Dabei streiften ihr Finger sein Haar, das ihm über die breiten Schultern fiel. Es waren beeindruckende Schultern, gestählt vom jahrelangen Kampftraining, das jeder Ritter absolvieren musste. Würde er es bemerken, wenn sie sich mehr Zeit nahm als nötig, nur einen winzigen Moment, um seine Schönheit zu bewundern?
Gisela, sei nicht dumm!
Er drehte sich zu ihr um und berührte den kleinen Stofffetzen, der oberhalb seines Verbands hing. »Ich habe meine Kette schon vermisst – als würde ein Teil von mir fehlen.«
Sag nicht solche rührende Sachen!
Sie blinzelte die Tränen fort, die ihr in die Augen stiegen, und sagte: »Mich erstaunt, dass du sie all die Jahre behalten hast.«
»Dein Geschenk brachte mir Glück in der Schlacht«, erläuterte er lächelnd und fügte sanft hinzu: »Ich glaube fest, dass es mich auch zu dir zurückgeführt hat.«
Ach, Dominic!
Ehe sie begriff, was er vorhatte, strich er ihr so unendlich zärtlich über die Wange, dass sie weinen wollte. »Sei ehrlich zu mir, Gisela! Hast du Angst, mit mir zu reden, weil dein früherer Ehemann weiß, wo du wohnst? Fürchtest du, dass er wütend auf dich ist, wenn du dich mir anvertraust? Dass er kommt und dich zur Rede stellt?«
Dominic kam der Wahrheit gefährlich nahe. Obwohl sie ihm niemals alles sagen konnte, wollte sie ihn auf keinen Fall glauben lassen, dass Ryle in der Nähe lebte und sie zu schwach wäre, sich seinem Einfluss zu entziehen. »Er lebt nicht in Clovebury. Und er weiß nicht, wo ich wohne. Das wird er nie erfahren«, erklärte sie entschlossen.
Ein seltsames Funkeln trat in Dominics Augen. »Ich gestehe, Gisela, dass ich immer neugieriger werde.«
Sogleich packte sie wieder eine eisige Furcht. Sie hatte bereits zu viel gesagt. Dominic war de Lanceau verpflichtet, der, sollte ihm zu Ohren kommen, dass sie vor Ryle geflohen war, durchaus befehlen könnte, sie zu ihrem Mann zurückzubringen. So wollte es das Gesetz.
»Bitte, stell mir keine Fragen mehr!« Sie wandte sich ab.
Doch sie war kaum zwei Schritte gegangen, als er sehr leise sagte: »Du bist weggelaufen.«
Gisela schluckte, was in ihren Ohren unglaublich laut klang, und Panik stieg in ihr auf. Während sie wie versteinert dastand, überlegte sie fieberhaft, welche vernünftige Erklärung sie Dominic geben könnte, um ihn von dieser Idee abzubringen. Als sie jedoch zu ihm sah, erkannte sie, dass alles Lügen zwecklos wäre. Er wusste, wie recht er hatte.
O Gott!
Benommen vor Schreck, vernahm sie lediglich aus weiter Ferne, wie die Ladentür geöffnet wurde. Es folgte das Trippeln von Schritten auf den Dielen.
Dominic stöhnte und sah zur Zimmertür.
Im nächsten Moment kam Ewan hereingestürmt, seine Kapuze schief auf den wirren Locken und einen Tontopf in der Hand, den er stolz in die Höhe hielt. »Mama! Ada hat mir Honig gegeben!«
»Na, das ist aber sehr nett von ihr«, sagte Gisela. Sie sah zu Ada auf, die nun durch die Tür trat und sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Ich wollte diese Woche welchen kaufen, aber nachdem der Bauer seinen Kohlpreis erhöht hatte …«
Die ältere Frau winkte ab. »Lass nur gut sein. Ich mache dem Kleinen gern mal ’ne Freude.«
Adas Grinsen war ansteckend, und so musste auch Gisela lächeln. Hoffentlich merkte ihr Sohn nicht, wie angespannt sie war. Sie sah wieder zu ihm und fragte sanft: »Hast du denn auch danke gesagt?«
Erschrocken drehte Ewan sich zu Ada um. »Danke!«
»Ist mir immer wieder ein Vergnügen, junger Ritter.«
Gisela warf Dominic einen Blick zu, dessen Mundwinkel zuckten, bevor er seine Tunika aufnahm. Ada sah auf seinen Rücken, wo sich die Muskeln unter der straffen Haut wölbten. Angesichts seiner unverkennbaren Stärke nahmen sich die Verbände recht dürftig aus.
Weil sie wusste, dass Dominic vor Ewan nicht als Schwächling erscheinen wollte, verkniff sie sich die Frage, ob sie ihm helfen sollte. Solange er sie nicht von sich aus bat, würde sie ihm auch keine Hilfe anbieten.
Ewan kam zu ihr getrappelt und streckte ihr den Honigtopf hin. »Darf ich ein bisschen Honig auf Brot essen? Bitte?«
»Ja, morgen zum Frühstück.«
»Och! Kann ich nicht jetzt welchen haben?«
Gisela wuschelte ihm durchs Haar, das dringend geschnitten werden musste. Morgen würde sie ihn überreden, lange genug stillzusitzen, dass sie seine wilden Locken bändigen konnte. »Hast du nicht eben erst Suppe gegessen?«
»Ja, aber …« Er schob die Unterlippe vor. »Ich hab noch mehr
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