Begehrter Feind
brennende Tränen schwammen in ihren Augen. Die Grenze zwischen Heiterkeit und Trauer schien gefährlich fragil, gleichsam wie eine zarte Samenkapsel, die jederzeit zerplatzen konnte. Jahre der Angst, der Reue und des Kampfes hatten Gisela verschlossen gemacht. Alles, was sie so lange unterdrückt hatte, drohte, sich Bahn zu brechen, neue Wurzeln zu schlagen, auf dass es zur Sonne emporwachsen könnte.
»Na, was sagst du?«, fragte Dominic und zeigte auf seine Kleidung.
Gisela blinzelte heftig, um die Tränen zu verscheuchen, und lächelte. »Prächtig!«
Hochzufrieden strich er sich über seine Tunika.
»Warum bist du so elegant gewandet?«, fragte sie. »Oder sollte ich fragen, da du ja offenbar kein alter verkrüppelter Bettler mehr bist, wen du heute
darstellst
?«
Er lachte und verneigte sich höflich. »Ich bin Dominic de Terre, ein wohlhabender Kaufmann auf dem Weg zum Londoner Hafen und sehr interessiert, orientalische Seiden zu kaufen«, erklärte er und fügte augenzwinkernd hinzu: »Hast du zufällig welche, die du mir verkaufen möchtest?«
Ihr Herz setzte kurz aus. Im selben Moment hörte sie ein leises Geräusch hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie Ewan, der in der Tür zum hinteren Zimmer stand, Sir Smug an seine Brust gepresst. Der Kopf des Stoffritters, den ein grauer Wollhelm zierte, ragte aus den Händen des kleinen Jungen, die langen Stoffbeine baumelten vor Ewans Bauch.
»Knöpfchen!« Sie bedeutete ihm, wieder nach hinten zu gehen und die Tür zu schließen.
Doch Ewan schüttelte energisch den Kopf. »Ich hab Dominic gehört.« Er sah an ihr vorbei zum Ladenfenster.
»Er heißt
Sir
Dominic«, korrigierte sie ihn sanft.
»Ist schon gut. Schließlich ist er ebenfalls ein Ritter, also muss er mich nicht ›Sir‹ nennen«, entgegnete Dominic lachend. »Guten Tag, Ewan.«
»Guten Tag.« Der Kleine hielt seinen Ritter noch fester und trippelte ein paar Schritte vor.
»Ewan, denk daran, was ich dir gesagt habe!«, ermahnte Gisela ihn streng.
Ihr Sohn zog eine trotzige Schnute.
»Ewan!«, wiederholte sie.
»Ich hab mein Schwert gefunden«, sagte er zu Dominic, dann sah er Gisela an. »Aber der Stoff ist weg, den du oben rumgewickelt hast. Einfach weg!«
Ja, Knöpfchen. Ich habe ihn gestern ins Feuer geworfen.
»Keine Sorge, ich finde neuen.« Sie zeigte zum hinteren Zimmer.
Ewans Augen funkelten vor Trotz. »Aber der andere war ganz weich, und er hatte eine hübsche Farbe. Ich will wieder genau so einen, Mama. Ich mag bl…«
»Knöpfchen, geh jetzt! Wenn ich es noch einmal sagen muss, dann …«
Zwar wollte sie ihn durchaus zurechtweisen, doch es kam deutlich schärfer heraus, als sie beabsichtigte. Und als sie sah, wie ihr Sohn sie anstarrte, verstummte sie mitten im Satz.
Nun bebte Ewans Kinn. »Ich mag nicht mehr drinnen sein!«, rief er widerspenstig.
»Ich weiß, Knöpfchen, aber …«, begann sie.
»Wie lange muss ich noch drinnen sein, Mama? Das ist langweilig.« Seine Stimme schlug in ein wütendes Schluchzen um, und er schleuderte seinen Stoffritter zornig auf den Boden. »Ich will nach Hause! Ich will Vater nicht sehen, der schreit immer so viel, aber ich will wieder in das große Haus mit der Schaukel. Da durfte ich immer nach draußen.« Er stampfte mit dem Fuß auf und stieß einen erzürnten Schrei aus.
Gisela verstand ihn sehr gut, und es brach ihr beinahe das Herz. Eilig lief sie zu ihm, hockte sich hin und legte den Arm um ihn.
Doch Ewan wich bockig zurück und wandte sich ab. Schmollend starrte er an die Wand. Tränen glänzten in seinen dichten Wimpern.
Ach, Knöpfchen! Du hast dich noch nie von mir abgewandt!
Der zerbrechliche Teil in ihr weinte. Ihr kleiner Junge wurde groß, veränderte sich und stellte sie vor Dominic auf die Probe. Sie biss die Zähne aufeinander und raffte all ihre Kraft zusammen. Einzig ihre Courage und ihr Instinkt konnten ihn schützen.
Das durfte sie nicht vergessen.
Sie wusste, dass Dominic sie beobachtete. Beruhigend rieb sie Ewans Rücken, wie sie es schon machte, seit er ein Baby gewesen war. »Jetzt musst du bitte zurück ins Hinterzimmer gehen, wie ich gesagt habe. Später reden wir darüber, was dich bedrückt.«
»Immer später!«, grummelte er.
Gisela seufzte. Könnte sie ihm doch bloß erklären, wie gefährlich es für ihn wäre, auf der Straße zu spielen! Aber er war ein Kind und würde es nicht begreifen. In der Nacht, als Ryle ihr in die Brust geschnitten hatte, hatte sie Ewan vor den schrecklichen
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