Begehrter Feind
Hunger.«
Wenngleich Gisela alles andere als froh zumute war, musste sie lachen.
»Er muss immerhin wachsen«, sprang Dominic dem Kleinen bei, während er sich die Tunika über den Kopf zog. Dann zeigte er auf die Suppenschale auf dem Tisch, die er noch nicht angerührt hatte. »Das ist ein Grund, weshalb ich die Portion, die Ada mir gab, nicht gegessen habe. Es war ein sehr freundliches Angebot, aber ich bin schon ein ausgewachsener Ritter. Darum möchte ich lieber, dass Ewan sie isst.«
Der kleine Junge rümpfte die Stupsnase. »Ich hasse Kohlsuppe.«
Dominic zwinkerte ihm zu. »Die hilft dir aber, zu einem großen starken Kämpfer heranzuwachsen.«
Trotzig streckte der Kleine seine Brust weit heraus. »Ich
bin
schon ein Kämpfer. Und später werde ich mal ein Ritter.«
Dominic, der sich gerade die Tunika glatt strich, hielt inne.
Natürlich wusste Gisela, was ihn stutzig machte und zu ihr sehen ließ. Zweifellos fragte er sich, wie Ewan auf die abwegige Idee kam, er könnte ein Ritter werden, obwohl er doch einer viel zu niederen Klasse entstammte.
Dabei floss sehr wohl adliges Blut durch Ewans Adern.
Schlagartig überkam Gisela eine tiefe Traurigkeit. Sie konnte Dominic gar nicht ansehen, deshalb rieb sie Ewan die Schultern. »Ich hole dir Brot. Zieh dir inzwischen den Mantel aus und hänge ihn an den Haken bei der Tür, ja?«
Strahlend drückte Ewan ihr den Honigtopf in die Hand, und Gisela ging am Esstisch vorbei zu dem kleineren Küchentisch, an dem sie das Essen bereitete. Daneben stand ein klappriger Schrank auf vier schiefen Beinen, in dem sie Gemüse und Pökelfleisch aufbewahrte. Dominics Blick folgte ihr, das fühlte sie deutlich, aber sie widerstand der Versuchung, zu ihm zu sehen.
Als sie den Tisch abräumte, bemerkte sie etwas auf dem Boden daneben: Ewans Spielzeugschwert. Um den Griff war ein Streifen blaue Seide gewunden, die sie ihm erst kürzlich gegeben hatte und die von Crenardieu stammte.
Es war sehr gut möglich, dass es sich um dieselbe Seide handelte, die de Lanceau gestohlen wurde. Sollte Dominic um den Tisch herumgehen und das Schwert sehen …
Ihre Hand, die den Honigtopf hielt, begann zu schwitzen, während sie langsam auf die andere Seite des Tisches schritt. Wäre es nicht klüger, wenn sie Dominic von den Seidenballen erzählte, die sie unter den Dielen ihrer Schneiderei versteckte? Wenn sie ihm gestand, dass sie nichts von dem Diebstahl gewusst hatte, als sie Crenardieu zusagte, ihm die edlen Gewänder zu nähen?
Kein Wort davon! Wenn du es Dominic sagst, wird de Lanceau seine Waffenknechte schicken, damit sie nachforschen. Ob die Seide gestohlen ist oder nicht, du wirst um die Bezahlung kommen, die Crenardieu dir versprochen hat. Und die brauchst du, um nach Norden zu fliehen, so wie du es dir erträumt hast. Dort, wo Ryle dich nicht findet, kannst du ein neues Leben anfangen. Und Ewans Leben ist ja wohl allemal wichtiger als deine Gewissensbisse!
»Ewan!«, riss Adas scheltende Stimme Gisela jäh aus ihren Gedanken. »Hast du deine Mama nicht gehört? Sie hat gesagt, du sollst erst deinen Mantel aufhängen, ihn nicht hier auf den Boden werfen!«
Gisela, die nur mit halbem Ohr auf das mürrische Gemurmel ihres Sohnes achtete, holte tief Luft. Sie musste tun, was nötig war, um ihrem kleinen Jungen eine Zukunft zu sichern. Sosehr sie Dominic auch einst geliebt haben mochte – und noch liebte –, war Ewan doch ganz von ihr abhängig, und das nicht nur, was Essen, Unterkunft und Zuneigung anging. Sein Leben hing von ihr ab.
Das Schwert aufzuheben und die Seide abzuwickeln würde die anderen erst recht darauf aufmerksam machen. Sie musste es verstecken.
Wo?
Während sie sich in der kleinen Küchennische umschaute, sagte Dominic: »Du willst also ein Ritter werden, Junge?«
»Ja«, antwortete Ewan ein wenig trotzig.
»Dann musst du lernen, wie man kämpft. Das ist harte Arbeit.«
Ewan schnaubte verächtlich. »Ich üb schon jeden Tag!«
»Ach ja?«
Giselas Blick fiel auf den dunklen Bereich unter dem Küchenschrank. Eilig kickte sie das Schwert mit dem Fuß darunter. Es schabte auf dem Sandboden, und sie hoffte inständig, dass die anderen es nicht hörten.
»Ich hab sogar schon ein Schwert«, verkündete Ewan selbstbewusst. »Ich zeig’s dir.«
Nein, Ewan, nein!
Mit einem letzten Tritt ließ sie das Spielzeugschwert unter dem Schrank verschwinden.
Gleichzeitig hörte sie, wie ihr Sohn näher kam. »Mama, wo ist mein Schwert?«
Sie stellte den Honigtopf
Weitere Kostenlose Bücher