Begehrter Feind
das Silber hervor, das Dominic ihr gegeben hatte, und hielt es Gisela hin. »Nimm du das!«
Gisela starrte auf die Münzen, die ausreichten, um Ewan und sie für mehrere Wochen zu ernähren. Doch als Hebamme verdiente Ada selbst eben genug für ein bescheidenes Leben. »Das ist sehr freundlich«, erwiderte Gisela, »aber Dominic hat dir die Münzen gegeben.«
»Du hast einen Kleinen zu kleiden und zu füttern. Ich muss bloß für mich selbst sorgen«, flüsterte Ada. »Vielleicht willst du mir nichts sagen, aber ich weiß, dass du in Schwierigkeiten steckst. Der Lord mit der gewandten Zunge, der hat die Schwierigkeiten gebracht, stimmt’s?«
»Nein, er hat nicht …«
Ada schnaubte und legte die Münzen neben die Schale mit Nüssen. »Ich bin nicht blöd! Ich seh doch, wie er dich ansieht, wenn er glaubt, es würd keiner merken.«
Gisela blickte hinüber zu Ewan, der mit Sir Smug redete. Er hatte den Stoffritter auf den Boden gelegt und bereitete ihm ein Lager aus einem Leinenfetzen, den er etwas unbeholfen zusammenfaltete.
»Wenn’s nach diesem Dominic ginge, wärst du jetzt im nächsten Feld und hättest …«
»Ada!« Gisela errötete.
Ihre Freundin schürzte die Lippen. »Du weißt, dass ich nur die Wahrheit sage.«
Verlegen senkte Gisela die Augen. Nach dem, was sie Dominic heute gestanden hatte, würde er sie nie wieder voller Verlangen ansehen. Bitterkeit und Bestürzung wären das, was sie fortan in seinem Blick erkannte, kein Begehren.
Ada befingerte die Münzen. »Na gut, du willst mir heute wohl nicht erzählen, was da zwischen euch los ist. Aber wenn ich offen sein darf, du hast Besseres verdient als dein Leben hier in Clovebury. Nimm die Münzen, und geh fort von hier … und von ihm!«
Ihre Worte trafen Gisela mit der Schärfe und Erbarmungslosigkeit eines Pfeils. Jetzt wegzulaufen würde heißen, sowohl Dominics Vertrauen zu verletzen als auch ihre Feigheit einzugestehen. »Es ist nicht so einfach …«, sagte sie zögernd.
»Mama!«, rief Ewan.
Rumms!
Gisela drehte sich blitzartig um, wo sie Ewan sah, der mit weit aufgerissenen Augen neben ihrer Pritsche stand. Der Deckel ihrer Schatztruhe hing in seinen Händen, der Inhalt der kleinen Kiste war auf dem Boden verstreut.
Zu Ewans Füßen lagen die Reste ihrer Gänseblümchenkette.
Dominic ging zügig durch die tintenschwarzen Straßen. Stiefelscharren drang aus einer Seitengasse zu seiner Linken, gefolgt vom Krachen zersplitternden Holzes und höhnischem Gelächter. Noch ein Krachen, und wieder erscholl grölendes Lachen. Cloveburys Vandalen waren bereits am Werk, nächtliche Parasiten, die sich von der Hilflosigkeit der Dorfbewohner nährten.
Dominic verlangsamte seine Schritte und lauschte, um die unterschiedlichen Geräusche besser einzuschätzen. Die Unholde demolierten entweder gerade ein Fuhrwerk oder brachen in einen der örtlichen Läden ein.
Als treuer Ritter von de Lanceau sollte er der Sache auf den Grund gehen und sein Bestes tun, um die Verbrecher wegzujagen. Doch den Stimmen nach zu urteilen müsste er es mit mindestens vieren aufnehmen. Wollte er eine Konfrontation mit den Schurken riskieren, bei der er womöglich verletzt oder getötet wurde und hernach nicht mehr imstande wäre, seine Pflicht gegenüber Geoffrey zu erfüllen – oder Gisela und Ewan zu helfen?
Vor wenigen Tagen noch hätte er sogleich seinen Dolch gezogen und sich mitten ins Getümmel gestürzt. Das war, bevor er Gisela wiedersah und erfuhr, dass Ewan sein Sohn war. Da waren die Entscheidungen ungleich klarer gewesen. Heute hingegen … Heute gab es andere Verpflichtungen, die eine lautere Stimme besaßen als sein kampferprobter Instinkt.
Folglich verdrängte er die Erschütterungen wie das Gelächter und lief weiter die Straße hinunter. Im Moment war das Wichtigste, dass er Geoffrey eine Nachricht zukommen ließ.
Danach konnte er ein paar Männer anheuern, die ihm halfen, die Vandalen zu verscheuchen.
Fetzen von Musik und lebhaftem Stimmengewirr leiteten ihn zur Taverne. Trotz der frühen Stunde stand die Tür sperrangelweit offen, und Licht strömte auf den Hinterhof hinaus. Das Duftgemisch aus Holzrauch, Ale und Schweiß umfing Dominic, als er an den Männern vorbeiging, die halbtrunken an den Tischen hockten, und sich durch die stehende Menge drängelte, bis er schließlich bei der wackligen Treppe angekommen war. Nachdem er sich eine Talgkerze von einem der nächstgelegenen Tische gegriffen hatte, stieg er die Stufen zu seinem
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