Begehrter Feind
zu Boden hängen ließ.
»Mutige Worte«, entgegnete Crenardieu, »aber ich bringe dich dazu, mir zu sagen, was ich wissen will – auf die eine«, er zeigte auf das Seil, »oder die andere Art.«
Gisela hielt Ewan fest an der Hand und eilte die Straße entlang. Die Häuser um sie herum waren in silbrig-wässriges Mondlicht gehüllt. Mit jedem Schritt schlug ihr die Tasche gegen die Hüfte, was ein dumpfes Klopfen hervorrief. Ihre Schneiderschere, die sie noch rasch auf dem Weg durch den Laden eingesteckt hatte, musste neben der Holzkiste gelandet sein.
Ärgerlich! Sie wollte schließlich nicht irgendwelche Diebe auf sich aufmerksam machen. Mit einem nervösen Seufzer drängte sie Ewan, schneller zu laufen, und klemmte ihren Beutel mit dem Arm fest. Die Münzen klimperten leise und erinnerten sie daran, wie dringend sie fliehen musste … und welche Wahl ihr bevorstand, die so real war wie die Schatten, die über ihnen lauerten.
Sie hatte genügend Silber, um einen Wagen mit Fahrer zu bezahlen, der sie auf Nimmerwiedersehen aus Clovebury brachte, auf dass sie sich den Traum erfüllte, der sie während der letzten Monate aufrechterhalten hatte.
»Mama.« Ewan zog an ihrer Hand. »Ich … Sir Smug hat Angst.«
Sie blickte in das Gesicht ihres Sohnes hinab und drückte seine Hand. »Wir schaffen das!«
Wir.
Einst waren Dominic und sie ein »Wir« gewesen: in jenem Sommer, als sie zusammen auf der Wiese lagen.
Die Nachtbrise wehte ihr durchs Haar und machte sie blinzeln. Was war mit Dominic? Konnte er Crenardieus Leuten entkommen? War er schlimm verletzt?
Vielleicht war es närrisch, dass sie sich sorgte. Immerhin hatte er einen Kreuzzug überlebt. Schlau und kampferprobt, wie er war, würde er die Schurken bei erster Gelegenheit niedermachen, sie zwingen, ihm das Versteck der restlichen gestohlenen Seide zu verraten, und dann zurückkommen, um Crenardieu zu holen. Dominic war schließlich ein Krieger.
Ein Teil von ihr weinte stumm, während sie Ewan weiterzog. Trotz des Wunders ihres Wiedersehens mit Dominic und trotz des Sohnes, der die Frucht ihrer Liebe war, könnten sie niemals zusammen sein. Sie hatte Dominic wissentlich belogen und betrogen. Sie verdiente, von de Lanceau bestraft zu werden. Zudem könnte Dominic sich nie an eine gemeine Bürgerliche binden, die seinen Freund und Lord verraten hatte – selbst wenn sie die Mutter seines Sohnes war.
Vor langer Zeit hatte sie sich gerühmt, stets das Richtige zu tun. Das war, bevor Ryle ihr in die Brust geschnitten und gedroht hatte, Ewan und jedem anderen etwas anzutun, der ihr lieb und teuer war.
Hätte sie doch nur andere Wahlmöglichkeiten außer denen, die ihr die Verzweiflung diktierte!
Wieder zerrte Ewan an ihrer Hand. »Wohin gehen wir? Suchen wir Dominic?«
Ach, Knöpfchen!
»Nein«, antwortete sie und hatte Mühe, ihre Stimme zu beherrschen. »Du und ich, wir reisen weit weg von hier.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Das wird ein Abenteuer.«
Jedes einzelne Wort tat ihr weh. Zwar war Dominic wahrscheinlich längst entkommen, aber liebeskrank, wie sie war, wollte sie,
musste
sie unbedingt wissen, ob es ihm gutging.
Was, wenn er seinen Entführern nicht entfliehen konnte? Wenn er immer noch geschlagen wurde oder … Schlimmeres? Ein unerträglicher Gedanke!
Ewan blieb so abrupt stehen, dass er sie beinahe umriss. »Ich will zu Dominic!«
Es brach ihr das Herz, ihn so verzweifelt zu sehen. Im Mondlicht glänzten Tränen in seinen Augen. »Ich weiß, dass du das willst, Knöpfchen.«
»Wir müssen ihn suchen.«
»Ewan …«
»Er braucht uns, Mama!«
Er braucht uns.
Die Worte rührten an ihr Innerstes, an jenen Teil, der auf ewig ihrer Liebe zu Dominic vorbehalten war. Ja, antwortete dieser Teil,
er braucht dich.
Auf einmal empfand sie eine neue Entschlossenheit, und sie hatte das Gefühl, sie könnte doch noch das Richtige tun. Ja, das war es!
Diese Erkenntnis kam so überraschend und klar, dass Gisela zitterte. Der nächste Windhauch trug disharmonischen Gesang von der Taverne herbei, und Gisela lächelte. Unter den Männern im Stubborn Mule würde sie gewiss einen Fahrer mit Wagen finden, der sie für ein paar zusätzliche Münzen bei Nacht fuhr.
Sie würde bezahlen, was verlangt wurde.
»Komm mit!«, sagte sie zu Ewan und zog ihn weiter in die nächste Straße.
Schritte und Schlurfen waren aus der Finsternis weiter vorn zu vernehmen. Jemand kam energischen Schrittes auf sie zu.
Könnte es einer der Männer sein, die
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