Begierde
Vicky war beeindruckt. Anna schien viel mehr Erfahrung zu haben, als sie erzählte. Sie zögerte. »Bist du sicher, dass ich das hinkriege?«
»Na klar. Wieso probierst du es nicht? Na los. Aber du musst deine Lippen gut anpressen. Spann sie fest über deine Zähne, wenn du nach unten rollst. Deine Zähne dürfen nicht frei sein, sonst tust du ihm weh, ich meine – dem echten.«
»Puh, ich wusste gar nicht, dass Sex so kompliziert ist.« Vicky blies die Backen auf.
»Nicht kompliziert, nur raffiniert.« Anna kicherte.
Vicky benötigte mehrere Versuche, ehe es endlich funktionierte. Zuletzt schaffte sie es sogar ohne Gleitmittel.
Anna versprach Vicky, ihr noch mehr beizubringen. Aber es war schon spät, daher verschoben sie es auf den nächsten Abend.
»Anna, schläfst du schon?«, fragte Vicky nach einer Weile ins Dunkle. Sie stützte sich auf dem Ellenbogen auf. Es gab noch eine Frage, die sie nicht schlafen ließ.
»Hmm, fast. Was gibt’s denn?«
»Du, wie ist das eigentlich, wenn man kein Kondom verwendet?«
»Was meinst du?«
»Ach komm, du weißt schon, sein – sein Sperma.«
Anna seufzte schläfrig. »Ach so.« Sie gähnte. »Entweder du fängst es mit der Hand auf, damit es nicht durch die Gegend spritzt oder du schluckst es runter.«
»Was, schlucken?« Vicky war entsetzt. Sie erinnerte sich an den einzelnen Tropfen, den sie bei Signor Raphaele gekostet hatte. Das war weniger schlimm gewesen, als sie befürchtet hatte. Aber wie würde es sich anfühlen, wenn – ja, wie viel schoss überhaupt an Samen heraus? »Alles?«
»Psst, nicht so laut oder willst du, dass dich jemand hört? Es ist nicht schlimm, schmeckt nach fast nichts und ist auch nicht ungesund oder gefährlich. Mach es, wie du willst.« Der Stimme nach schien Anna amüsiert, aber auch müde. »Eines kann ich dir verraten: Wenn du es schluckst, fühlt
er
sich wie im siebten Himmel. Einen größeren Gefallen kannst du ihm gar nicht tun.« Sie gähnte noch mal herzhaft. »Damit übernimmst du die Kontrolle über ihn – wenn auch nur vorübergehend.«
Während Vicky noch darüber nachdachte, was in Zukunft alles von ihr erwartet wurde, schlief Anna ein, wie ihr tiefes Ein- und Ausatmen kundtat. In dieser Nacht zog Vicky im Traum Kondome über Penisse auf, die am Stück aufgereiht waren, in einer schier endlosen Schlange und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie künstlich waren oder ob da ein Mann neben dem anderen stand und darauf wartete, von ihr mit einem Kondom bestückt zu werden.
Nach wie vor hatte Vicky Angst, sich lächerlich zu machen. Es war nicht einfach, im Erotikunterricht zu verbergen, wie fremd ihr das alles vorkam, wie sehr sie sich genierte, vor den Aktfotos, den Sexvideos, den in Büchern beschriebenen und im Unterricht offen diskutierten Praktiken.
Sie hatte nicht den Funken einer Ahnung gehabt, was Sex zwischen Mann und Frau wirklich bedeutete. Was war schon die Aufklärung in der Schule, durch die Mutter, die Jugendzeitschriften oder andere Medien wert. Und die hatte wenig mit dem zu tun, was sie bis dahin irgendwo aufgeschnappt, von Freundinnen gehört oder in Liebesfilmen gesehen hatte. Alles war nur Theorie, und diese trug nicht dazu bei, sie zu beruhigen. Ständig fürchtete sie, vor Scham rot anzulaufen.
Es war nur eine Frage der Zeit. Irgendwann würde man sie wieder mit Raphaele oder einem anderen Mann zusammenbringen, und dann würde sie sich dieser Situation stellen müssen. Und dann? Die Tatsache, dass sie noch nie einem Mann gehört hatte und es so viele sexuelle Variationen gab, machte ihr zunehmend Angst.
Jede Menge Schuldgefühle
Seit Tagen dasselbe Bild. Wenn Antonio in Marcs Büro kam, stand dieser entweder mit verschränkten Armen am Fenster oder saß in seinen Bürosessel versunken, das Kinn auf einer Faust, den Ellenbogen auf der Lehne abgestützt. Blicklos stierte er vor sich hin und reagierte erst beim zweiten oder dritten Mal, wenn Antonio ihn ansprach.
»Was ist los mit dir? Und behaupte nicht wieder, es sei nichts. Es geht um deine Schwester, nicht wahr? Rede mit mir, Marco.«
Antonio setzte sich auf den Stuhl, der auf der anderen Seite des Schreibtisches stand, Marc gegenüber. Er hatte den festen Entschluss gefasst, solange sitzen zu bleiben, bis er eine Antwort erhielt.
Marc aber schwieg.
Antonio schlug die Beine übereinander und wippte langsam mit dem Fuß. Ihre beiden Büros lagen fast nebeneinander, nur durch das dazwischen liegende Büro getrennt, in dem ihre
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