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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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Haus, über den Platz und zur Kirche hinüber. Vor der bunten Statue der Lieben Frau vom Weingarten sank sie zu Boden.
    Die bemalte Holzfigur der gekrönten Mutter Gottes mit dem Kind wurde so genannt, weil sie in der freien rechten Hand eine Weintraube hielt. Das liebevolle Lächeln, mit dem die Madonna ihr Kind betrachtete, hatte Ysée schon immer an das Lächeln ihrer Mutter erinnert. An das Lächeln ihrer richtigen Mutter, deren Antlitz ein jedes Mal hinter Flammen und Strömen von Blut verschwunden war, wenn sie ihre Erinnerungen heraufbeschworen hatte. Irgendwann hatte sie es aufgegeben, diese schrecklichen Bilder zu rufen, und stattdessen die Mutter Gottes an ihre Stelle gesetzt.
    Wie kannst du das zulassen?, warf sie ihr jetzt vor. Wenn die Magistra sterben muss, gibt es niemanden mehr, der auch nur ein gutes Wort für mich übrig hat.
    Bruder Simon erhob sich vor dem Altar von den Knien und sah sich nach der Begine um, die so gegen jede Sitte in die Kirche gestürmt war und nun in erstarrtem Schmerz vor der Mutter Gottes verharrte. Als er näher trat, sah er die Tränen auf ihren Wangen. In den grünen Augen kämpften Zorn und Trauer um die Vorherrschaft.
    »Was ist geschehen? Warum stürzt du in die Kirche, als wären alle Dämonen der Hölle auf deinen Fersen, Schwester?«, rügte er sie.
    Ysée fuhr herum, erkannte den Mönch und kam schwankend auf die Füße.
    »Ihr?« Sie biss sich auf die Unterlippe und kämpfte um Fassung. Sie hatte so oft an ihn gedacht, dass sie im ersten Moment zu träumen glaubte.
    »Du vergisst schon wieder die Augen niederzuschlagen.«
    »Wenn ich das tue, sehe ich Euch nicht.« Ysée sprach, ohne nachzudenken. Sie sagte einfach die Wahrheit. »Aber du verstößt gegen die guten Sitten.« Bruder Simon verfolgte den Widerstreit der Empfindungen auf ihrem reinen Antlitz. Trotz, gefolgt von Schmerz und Einsamkeit. Was wusste sie von den Ereignissen der Vergangenheit? Was ging hinter dieser makellosen Stirn vor? Sah sie ihn so an, weil sie sich an sein Gesicht erinnerte? War das verstörte Kind von Courtenay alt genug gewesen, sich zu erinnern? »Bist du gerne bei den Beginen, Ysée?«
    »Ich kenne kein anderes Leben, ehrwürdiger Vater.« Sie wunderte sich, dass er ihren Namen wusste.
    Der Mönch stutzte. War dies die Antwort auf seine Frage? »Gefällt dir dieses Leben?«
    Sie zögerte, strich über ihr Gewand und spürte den Umriss des kostbaren Buches darunter. Es war Sünde zu lügen, aber die Wahrheit würde sie nur in Schwierigkeiten bringen. »Ich kenne kein anderes«, wiederholte sie deswegen mit einer Spur von Auflehnung.
    Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest. Ysées Pupillen weiteten sich, und ihre Lippen formten eine stumme Frage. Bruder Simon konnte sie nicht beantworten, er fühlte sich ebenso in die Enge getrieben wie die junge Begine. Erst als Ysée mit einem leisen Laut herumwirbelte und kopflos aus dem Gotteshaus floh, kam er wieder zu sich.
    Ein tiefer Atemzug weitete seine Brust, und er hatte Mühe, einen Fluch zu unterdrücken. Piet Cornelis würde keine Schwierigkeiten haben, seine Enkeltochter aus der Gemeinschaft herauszuholen, wenn er von ihrer Existenz erfuhr. Sie war nicht geschaffen für ein Leben des Gebets, der Entsagung und der Armut. Es fehlte ihr sowohl an Demut wie an Gehorsam. Vermutlich sehnte sie sich nach hübschen Gewändern und Juwelen, nach Unterhaltung und Bewunderung, so wie seine Schwester Mabelle. Selbst ihre Brüder hatte sie dafür verraten. Frauen waren gefährlich, man durfte sich nicht von ihrer vermeintlichen Zartheit täuschen lassen.
    War es für Ysées Seelenheil nicht besser, wenn sie im Schutze des Beginenhofes blieb? Wenn sie Gott diente, statt den Reichtum ihres Erbes zu verschwenden? Herr, hilf mir, ich weiß nicht, was ich tun soll! Der Mönch ging zum Altar zurück und versuchte die Antworten auf seine Fragen im Gebet zu finden.

V IERTES K APITEL
    Fragen
     
     
     
    M ATHIEU VON A NDRIEU
    Brügge, 12. November 1309
     
    »Der Turm der Tuchhalle überragt in dieser Stadt sogar die Kirchen und die Burg des Grafen. Da muss unsereins nicht fragen, wer hier die Macht in den Händen hält.« Jean Vernier spuckte zielgenau am Ohr seines Reitpferdes vorbei, zwischen die Räder eines voranrumpelnden Holzfuhrwerkes. Sie warteten in der Vlaming Straat, bis sich Zugochsen und Lenker auf eine Richtung geeinigt hatten. Der große Markt im Herzen von Brügge, den sie über das Hindernis hinweg betrachten konnten, war an

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