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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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die Fürsorge, die er ihr angedeihen ließ. Sie hatte sich innerlich völlig verschlossen. Seit es ihr körperlich wieder besser ging, hatte Mathieu die Sorge um sie auf seinen Waffenmeister übertragen und war aus dem hübschen, kleinen Haus verschwunden. Jean Vernier wusste vermutlich, wo er steckte, aber Ysée hatte ihn nie danach gefragt.
    Mathieu und sein Bruder waren eine Erinnerung an Brügge, und genau die wünschte sie mit aller Macht zu tilgen. Sie wollte nicht an die Geschehnisse in Flandern denken. Das Haus in der Rue des Ursins war ihr eine rettende Insel, auf der sie die Welt vergessen konnte.
    Die Entdeckung, dass außerhalb seiner Mauern die Sonne schien und eine große Stadt pulsierte, traf sie völlig unvorbereitet. Die Luft roch mit einem Mal nach frischer Erde statt nach dem erstickenden Rauch von Herdstätten oder dem Unrat der Gassen. Die Wirklichkeit, der sie sich bisher verweigert hatte, bedrängte ihre Sinne. Die Luft vibrierte förmlich vor Betriebsamkeit, und anders als in Brügge war da niemand, der ihr sagte, es habe sie nicht zu kümmern.
    Mit einem tiefen Atemzug suchte sie den Blick des Waffenmeisters.
    »Wo sind wir hier? Erzähl mir etwas mehr über den Ort meiner Zuflucht«, wandte sie sich an ihn.
    Er grinste zufrieden. »Auf der Ile de Cité, mitten in der Seine. Im Schatten der großen neuen Kathedrale von Notre-Dame und unmittelbar am Gelände des früheren Hafens von Paris. Man hat ihn vor ein paar Jahren an die Kais unterhalb des Place de Grève verlagert, wo mehr Raum für die vielen Kähne war. Die Fischer und Schiffer der alten Parisii nannten diese Insel Lutetia, was so viel bedeutet wie vom Wasser umgeben.«
    »Aber es riecht nicht nach Meer«, stellte Ysée fest, nachdem sie prüfend die Luft eingezogen hatte und keinerlei Salzhauch darin finden konnte.
    »Wir befinden uns hier im Herzen des Königreichs von Frankreich auf einer Flussinsel der Seine.« Jean deutete mit einer Kopfbewegung zur Mauer. »Wenn du bis zum Ufer weitergehst und in einen Kahn steigst, würde es immer noch Tage dauern, bis du auf der Seine das Meer erreicht hast.« Ysée schwankte zwischen ihrer neuen Wissbegier und der alten Scheu. Es gab so viele Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte. Ob Paris nun am Meer lag oder an einem Fluss, hatte in ihrem Leben bislang keine Rolle gespielt. Simon würde es wissen. Simon.
    Ja, an ihn hatte sie sich immer wieder erinnern müssen und es sich immer wieder hartnäckig verboten. Sie hatte kein Recht, an ihn zu denken. Er hatte sie fortgeschickt, und sie konnte ihm deswegen nicht grollen, und doch schmerzte es sie, denn für einen kurzen Augenblick hatte sie sich geborgen, geliebt und getröstet gefühlt.
    Was musste er von ihr denken? Ihr Großvater hatte sie zerstört und für immer beschmutzt. Simon konnte sich weder als Mönch noch in Liebe als Mann von ihr angezogen fühlen. Dem einen stand sein Gelübde im Wege, dem anderen die Ehre. Sie wollte nicht daran denken! Die Gefühle, die sich ihrer bemächtigten, wenn sie an ihn dachte, waren zu verwirrend. Sie musste etwas tun. »Ich möchte die Stadt sehen.« Erst die verblüfften Züge des Waffenmeisters überzeugten Ysée, dass sie diesen Wunsch tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Sie versuchte sich zu erklären.
    »Ich lebe in der Stadt des Königs und kenne nicht mehr als Mauern im Hinterhof und den Blick auf die Gasse. Ich will die große Kirche sehen. Den Fluss. Die Menschen. Den Hafen. Jetzt.«
    »Da soll doch…« Jean kratzte sich das Kinn mit dem grauen Spitzbart. »Juckt dich die Sonne, Mädchen?« Ysée gab keine Antwort. Sie ging an ihm vorbei in die Küche zurück. Der Raum wurde von einer gemauerten Feuerstelle beherrscht. Blank gescheuerte Kupfertöpfe, ordentlich gestapelte Schalen und Teller, Körbe voller Vorräte sowie Zwiebelzöpfe und getrocknete Kräuterbündel zeugten von sauberer Haushaltsführung. Der Boden war mit Ausnahme einer Steinfläche vor dem Feuer mit Stroh bedeckt. Der Wollkorb mit der Handspindel stand neben dem Fenster, wo Ysée gearbeitet hatte, ehe der Star sie neugierig gemacht hatte. Unvermittelt kamen ihr die Wände zu eng, die Decke zu nieder vor. Der leise brodelnde Suppentopf über der Glut roch nicht mehr so verlockend wie zuvor, und die Arbeit konnte warten. Sie durchquerte den Raum mit schnellen Schritten und öffnete schon die Haustür, als Jean sie einholte. »Was tust du da, Mädchen?«
    »Hinausgehen.«
    »Das kannst du nicht.« Ysée fuhr herum. »Was

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