Beginenfeuer
Gruß. Als Katelin kam, das Tablett mit dem Mittagsmahl zu bringen, stand er noch am selben Fleck. Stumm. Reglos. Ein alter Mann, der seine Verfehlungen mit dem Tod seiner Hoffnungen bezahlte.
Y SÉE
Prinzenhof in Brügge, 21. November 1309
Ysée hatte dem Feuer den Rücken zugekehrt und genoss die Wärme, die vom Kamin abstrahlte. In den vielarmigen Leuchtern steckten auf Eisendornen dicke, gelbe Kerzen, und auf dem Absatz des Kamins stand ein dampfender Krug mit Gewürzwein, dessen Zimtaroma sich mit dem Honigduft der Kerzen mischte. Die Fülle von Licht und Annehmlichkeiten betäubte ihre Sinne und machte es ihr schwer, die Gedanken zu ordnen. Was hatte sie im Prinzenhof zu suchen? Weshalb all diese Polster, die Kerzen, die kostbaren Kleider und die beflissene Magd, die ihr aufwartete, als sei sie die Gräfin von Flandern? Sie kam sich vor wie eine Betrügerin. Jeden Augenblick rechnete sie damit, von den Wachen des Grafen abgeführt und in den Kerker geworfen zu werden. Sie hatte versucht, die Kammerfrau zu befragen, aber sie gab ihr ebenso wenig Auskunft wie der mürrische Stallmeister, der vor ihrer Tür wachte. Bei jeder Frage verwiesen sie auf den Gesandten des Königs von Frankreich. Mathieu von Andrieu. Der Name weckte eine ferne bedrückende Erinnerung. Doch immer wenn sie versuchte, sich genauer zu besinnen, fand sie keinen vernünftigen Anhaltspunkt. Es kam ihr vor, als wehre sich ihr Kopf dagegen, das Rätsel zu lösen.
Wann ließ er sie endlich in den Beginenhof zurückkehren? Er bedrängte sie nicht wie Piet Cornelis, aber sie hatte den Eindruck, dass auch er über ihren Kopf hinweg Entscheidungen traf.
Dabei hatte sie keine Ahnung, was mit ihr geschehen würde, wenn sie wieder in den Beginenhof zurückkehrte. Konnte sie darauf vertrauen, dass die Aufregung um den Spiegel der Seelen über dem Schrecken des Brandes vergessen worden war? Wohl kaum. Alaina vergaß nie etwas. Andererseits: Welche Wahl blieb ihr? Der Beginenhof war ihr Zuhause. Unruhig erhob sie sich von dem gepolsterten Taburett und trat zum Fenster. Die Nacht war hereingebrochen, aber von den langen Stunden des Nachmittags wusste sie, dass der Turm von Sankt Salvator über den Dächern der Patrizierhäuser stand, die sie von hier aus mehr ahnen als sehen konnte. Sie ließ die Fingerspitzen über die kühlen Rauten der Scheiben gleiten. Ihre Haut war rauer als das Glas.
Die Magd war an diesem Morgen in ihrem Gemach erschienen und hatte sie in eine Edeldame verwandelt, neben der selbst die Erinnerung an Mareike Cornelis im Feststaat verblasste. Inzwischen trug sie sogar Strümpfe und Schuhe sowie einen sittsamen Schleier über den offenen Haaren. Ein leises Geräusch an der Tür ließ sie sich auf dem Absatz umdrehen. Endlich kam jemand!
Die hastige Bewegung ließ Schleier und Haare aufwehen. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick Pater Simons überrascht. »Ihr lebt!«
Dem Mönch fehlten die Worte. Gebannt vom unerwarteten Anblick der ebenso eleganten wie liebreizenden Erscheinung vergaß er, was er sagen wollte. Sein Herz weitete sich, das Blut rauschte in seinen Ohren, und eine einzige, unerhörte Erkenntnis nahm Besitz von ihm: »Gütiger Himmel, ich liebe sie!«
Ysée trat anmutig näher und entdeckte im Schatten der Kapuze die Spuren der Verletzung. Ohne nachzudenken, strich sie ihm über die Stirn.
Fast hätte die Berührung ihn verführt, sie in die Arme zu schließen. Im letzten Moment hielt er inne und trat einen Schritt zurück. Was geschah mit ihm?
Ysée sah ihm in die schreckerfüllten Augen. Was ging in ihr vor? Sie hatte angenommen, dass sie nach diesem fürchterlichen Gewaltakt nie mehr einem Mann ohne Angst begegnen könnte. Und nun sehnte sie sich nach dem Trost eines Mannes, der sie noch vor wenigen Tagen mit der Inquisition bedroht hatte. Was strahlte er aus, dass sie ihm trotz allem so vertraute? Beide spürten plötzlich die tiefe Zuneigung füreinander, die sie nie in Worte hatten fassen können.
Simon meisterte als Erster seine Gefühle und ergriff ihre Hände. »Ysée, du bist in der Obhut meines leiblichen Bruders Mathieu, er war es, der dich hierher gebracht hat. Ich empfinde eine tiefe Schuld. Das fürchterliche Unrecht, das dein Großvater an dir begangen hat, hätte ich verhindern können, wäre es mir gelungen, deine Verschleppung zu vereiteln.« Die Erinnerung stieg erneut so übermächtig in ihr auf, dass sie am ganzen Körper zitterte.
Simon nahm sie beschützend in die Arme,
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