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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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und hilf mir.« Ysée hob entschlossen den Kopf mit der kinnlangen Knabenfrisur. »Ich nehme an, dass ich nicht mehr viel Zeit habe.«
     
     
    Die Stadtwache des Genter Tores schenkte der kleinen Reisegruppe, die in den ersten Morgenstunden des Tages der heiligen Cäcilie die Stadt Brügge verließ, wenig Aufmerksamkeit. Ein Ritter mit einem Begleiter und einem Knappen. Wenn es etwas Auffälliges gab, dann höchstens dies, dass der Knappe jämmerlich schlecht zu Pferde saß und in seinem braunen Reiterumhang fast ertrank.
    Ysée warf keinen Blick zurück. Sie richtete die Augen starr nach vorne auf den Weg, der vor ihr lag. Ihre Ohren unter der Kapuze des Umhanges röteten sich im schneidenden Ostwind. Sie fror, aber sie begrüßte die Kälte. Sie entsprach dem Gefühl ihrer Seele.
    Sie hieß jetzt Yvo und war Knappe eines einsilbigen Edelmannes. Sie begann ein neues Leben, von dem sie nicht wusste, was es ihr bringen würde.

 
     
     
    P ARIS

Z EHNTES K APITEL
    Wissen
     
     
     
    Y SÉE
    Paris, Rue des Ursins, März 1310
     
    Das Mauerrund des Ziehbrunnens maß in seiner Breite kaum die Spanne einer Hand. Dem Vogel genügte der schmale Absatz für seine Vorstellung. Flatternd, hüpfend und zwitschernd wurde er im Sonnenschein zu einem jettschwarzen Kobold, in dessen Gefieder grüne und bläuliche Lichter aufblitzten. Ysée konnte die Augen nicht von ihm lassen. Das unaufhörliche Gezwitscher hatte sie aus der Küche in den winzigen Hof gelockt, der von Mauern umgeben war. Im Winter war er ein ödes Fleckchen Erde mit einem Brunnen und einem Apfelbaum. Grau, von Ruß und Asche bedeckt, hatte sie ihn nur betreten, wenn sie Wasser holen musste. Ysée entdeckte erste Grashalme und wilde Veilchen. Sie reckten sich dem Licht entgegen. Der Star flog vom Brunnen auf den untersten Ast des Baumes und sang aus vollem Halse. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht berührten Laute ihre Seele. Der gleichförmige Lärm der Stadt hinter den Mauern war nur bis an ihr Ohr gedrungen. Der Ruf eines Pastetenverkäufers, das Quietschen von Fuhrwerken, das Schlagen von Hämmern und der Klang der Stundenglocke des nahen Gotteshauses. Es schien ihr, als wecke sie der Gesang des Vogels aus einem langen, bleischweren Schlaf. Sie hob den Blick zum Himmel und sah, dass er sich wie ein Zelt aus feinster blauer Seide über der Stadt spannte. Wieso hatte sie nicht bemerkt, dass der Winter längst vorbei war?
    »So hast du dich also endlich entschieden, das Leben in Augenschein zu nehmen«, hörte sie eine brummige Stimme im Rücken.
    »Es ist Frühling«, erwiderte sie mit einem tiefen Atemzug, als würde das alles erklären. »Du kannst ja mehr als ein Wort sprechen.«
    »Habt Ihr daran gezweifelt?«
    Ysée wandte sich um. Sie hatte sich mittlerweile an die barsche Manier des alten Waffenmeisters gewöhnt. Sie wusste, dass ein gutmütiges Herz in seiner Brust schlug.
    »Das muss erlaubt sein, Demoiselle«, antwortete er. »Immerhin hast du seit Dezember kaum zwei zusammenhängende Sätze gesprochen. Es sei denn, sie hätten zu einem Gebet gehört. Aber wer bin ich, dass ich mich beschwere? Ein stummes Frauenzimmer ist ein Geschenk des Himmels.« Ysée musste lachen. Erstmals seit sie das Haus in der Rue des Ursins betreten hatte, spürte sie wieder das Blut durch die Adern strömen. Die eisige Erstarrung, die sie umfangen hatte, war in der Frühlingssonne geschmolzen. Sie hielt das blasse Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen. Der Star flatterte auf und unterbrach sein Konzert. Sie fühlte Jeans Blick und begegnete seinen Augen.
    »Ich benehme mich närrisch, nicht wahr? Schwester Alaina würde mich rügen.«
    »Du bist nicht mehr bei den Beginen.«
    Er hatte das schon oft gesagt, aber erst heute nahm Ysée seine Worte wahr. Er hatte Recht, weder die dunkle Wolle ihres Gewandes noch die züchtige Haube konnten etwas daran ändern. Beides hatte sie mit eigener Hand gefertigt, ihre äußere Erscheinung glich wieder der von früher, so wie sie auch weiterhin nach der Flucht das Leben einer Begine führte. Sie sprach zu den festgesetzten Stunden ihre Gebete, achtete die Fastenvorschriften und hielt das Haus sauber, wie sie es bei Berthe getan hatte. Ihre Tage unterschieden sich kaum von jenen in Brügge. In der fremden, verwirrenden Umgebung waren die vertrauten Handgriffe ihr einziger Halt.
    Fiebernd, hustend, mit schmerzenden Gliedern und totem Herzen war sie in der fremden Stadt angekommen. Taub für alles, was Mathieu ihr sagte, und blind für

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