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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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beschleunigte. Die Bäume versperrten ihm die Sicht. Bis er an ihnen vorbeigefahren war, war es schon zu spät. Er hatte Nino am Boden liegen sehen und im Licht einer Straßenlaterne das Heck einer GSXR 1100 erkannt, die kurz ins Schleudern kam und dann in der Dunkelheit verschwand. Tony hatte eine Vollbremsung gemacht, war von seinem Roller abgesprungen – Nino! – und zu seinem Lebensgefährten gestürzt. Nino lag zusammengekrümmt da, er konnte sich wegen heftiger Schmerzen in den Lendenwirbeln nicht bewegen, war jedoch bei Bewusstsein und außer sich vor Wut. »Der hat mich einfach umgefahren, Scheiße. Hast du das Nummernschild gesehen?«, hatte er mit schmerzverzerrtem Gesicht hervorgestoßen. Tony hatte sofort geantwortet »145 MAG 92«. Nino fluchte: »Mist, der Rücken! Ich kann mich nicht rühren.« Tony hatte den Rettungsdienst benachrichtigt, und man hatte Nino sofort ins Krankenhaus transportiert.
    145 MAG 92.
    Als der Polizeibeamte seine Aussage aufnahm, hatte Tony ihm diese Nummer genannt. Es beruhigte ihn ein wenig, zu wissen, dass man den Rowdy ermitteln und dingfest machen würde. Plötzlich spürte er ein Vibrieren. Tony zuckte zusammen und suchte in Ninos Blouson nach dessen Handy. Auf dem Display las er »Unbekannter Teilnehmer«. Wer kann so früh am Morgen anrufen?, überlegte er. Einen Augenblick war Tony unentschlossen, dann nahm er das Gespräch an.
    »Hallo?«
    »Nino Paci?«, fragte eine Frauenstimme.
    Tony biss sich auf die Lippen und stand auf. Er war allein in dem Wartezimmer und ging ein paar Schritte bis zum Fenster, das auf die verlassene Station hinausführte.
    »Es tut mir leid, Mademoiselle, ich bin Tony, ein Freund von Nino. Nino ist … momentan nicht zu sprechen.«
    »Oh!«, sagte die Frauenstimme, die enttäuscht und verwirrt klang. »Ich bin die Nichte von Cyrille Blake, sie hat mir geraten, diese Nummer anzurufen. Kann ich es später noch einmal versuchen?«
    »Nino wird gerade operiert, er hatte einen Unfall.«
    »Einen Unfall? Oh, das tut mir leid …«
    »Ich warte jeden Moment auf Nachricht«, fuhr Tony fort, der eigentlich froh war, mit jemandem sprechen zu können. »Offenbar hat er eine Rückenfraktur erlitten. Man hofft, dass die Wirbelsäule nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen ist.«
    Marie-Jeanne sagte nichts, sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Tony sprach freundlich weiter.
    »Was kann ich für Sie tun?«
    »Nichts, entschuldigen Sie die Störung.«
    »Nein, warten Sie. Warum hat Cyrille gesagt, Sie sollten uns anrufen?«
    »Ich habe … ein kleines Problem und fühle mich seit gestern Abend sehr unsicher. Aber ich komme schon allein zurecht.«
    »Cyrille hat Sie angerufen? Wo ist sie?«
    »In Thailand, an einem Ort, wo die Verbindung sehr schlecht war.«
    »Hat sie sich seither wieder gemeldet?«
    »Nein, ich habe nichts mehr gehört.«
    Tony erkannte an der Stimme der jungen Frau, dass sie den Tränen nahe war.
    »Wo sind Sie?«
    »Im Hôpital des Quinze-Vingts.«
    »Im Quinze-Vingts? Was ist passiert?«
    »Das ist eine lange Geschichte. Ich wurde überfallen …«
    Tony runzelte die Stirn.
    »Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert?«
    Schweigen am anderen Ende der Leitung.
    »Nein. Ich bin ganz allein.«
    Marie-Jeanne begann leise zu weinen.
    Tony setzte sich auf einen Plastikstuhl.
    »Erzählen Sie mir alles …«
    *
    Mit einer Schlafmaske auf den Augen und Stöpseln in den Ohren versuchte Benoît Blake zu schlafen. Trotz des bequemen breiten Liegesitzes in der Business Class und dem Beruhigungsmittel, das er nach dem Abendessen eingenommen hatte, gelang es ihm nicht, zur Ruhe zu kommen. Seine Nerven waren so in Aufruhr, dass er nur döste und immer wieder aufschreckte. Seit Beginn seiner Karriere hatte er seine Schachzüge stets geduldig Schritt für Schritt geplant, um für seinen soliden Aufstieg zu sorgen. Ein einziges Mal war ihm aus Voreiligkeit ein Fehler unterlaufen. Nachdem er das außergewöhnliche Potenzial von Meseratrol bei Mäusen entdeckt hatte, hatte er seine Gelassenheit verloren. Er hatte einige Etappen überspringen wollen, hatte Kontakt zu seinem Kollegen Rudolf Manien aufgenommen und diesen kleinen, heimlichen Versuch arrangiert, um herauszufinden, ob der Mensch ebenso gut auf das Molekül ansprechen würde wie die Nager und ob dies der richtige Weg zur Behandlung von Traumata sein könnte.
    Benoît hatte keine Bedenken gehabt, denn das Arzneimittel sollte Probleme lindern, und das war schließlich kein

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