Begrabene Hunde schlafen nicht
sein, glaube ich, ein
enormes, unbewußtes Gefühl von Schuld, das sie aufs Glatteis
führte. – Und was bleibt uns jetzt nach einem halben Jahrhundert Sozialdemokratie?« Sie zeigte auf die Straße. »Großstädte,
die am Tage Verkehrsmaschinerie und nachts eine Arena für
Straßenschlachten sind. Kinder, die in Containern und Hauseingängen schlafen, weil ihre Eltern an der Nadel hängen, stinkevoll sind oder jedenfalls nicht zu Hause. Kahlgeschorene Affen,
die rumrennen und den Hitlergruß nachmachen, während sie
Ausländer schikanieren und alten Damen Jude! Jude! hinterherschreien. Während wir, die überlebt haben, nachmittags so
schnell wie möglich die Stadt verlassen, zu unseren Häusern
hinter hohen Hecken und kleinen Gärten am Fluß flüchten, wo
wir uns einen Drink mixen können, das Lagerfeuer mit all
seinen Kanälen anstellen, eine von hundert Quizsendungen
aussuchen und in der Gewißheit vor uns hin dösen: Was wir
nicht sehen, haben wir nicht gesehen, was wir nicht wissen, tut
uns nicht weh, und was wir nicht hören … Kurz gesagt: das
neue Klassenbewußtsein.«
»Und gibt es ein Rezept?«
»Ich weiß es nicht. Die Ideologien sind tot. Der Kapitalismus
hat gesiegt. Heute sieht es eher so aus, als hätten wir die Wahl
zwischen zwei Arten des Kapitalismus, dem amerikanischen
und dem europäischen, und im letzteren findest du zumindest
Reste der alten sozialdemokratischen Ideale.«
Die Ampel sprang auf Grün, wir überquerten die Kungsgata.
»Wir leben in einer neuen Nachkriegszeit, Veum. Nach dem
Kalten Krieg. Ich glaube, das wird die Philosophen der vorigen
Nachkriegszeit wieder aktuell machen. Sartre, Camus. Die Welt
sieht absurder aus denn je. Die Wahlen, vor denen wir stehen,
sind alle zutiefst existentiell. Und wir müssen sie selbst vornehmen. Wir können nicht mehr andere über uns bestimmen
lassen.«
Sie blieb abrupt stehen und zeigte in eine Seitenstraße. »Da, da
hinten, ungefähr da, wo der rote Wagen parkt.«
»Ja?«
Sie zeigte in die entgegengesetzte Richtung, auf die andere
Seite des Sveaväg. »Und da hinten, an der Ecke.«
»Wovon sprichst du?«
»Sichere, dokumentierte Beobachtungen aus den Stunden vor
dem Mord an Olof Palme, von Männern mit tragbaren Funktelefonen. Keiner von ihnen meldete sich nach dem Mord. Der Polizei waren sie nicht bekannt, hieß es hinterher. Aber es gibt kein
sichereres Indiz dafür, daß es sich um eine Verschwörung
handelte.«
Sie winkte einem jungen Mann mit langem schwarzem Pony,
ausrasiertem Nacken, grüner Windjacke und zwei umgehängten
Fotoapparaten. »Sigge! Hier bin ich!«
Er blieb stehen und wartete auf uns. Sigge und ich gaben
einander die Hand, und sie holte das Foto wieder heraus.
Sie erklärte ihm, was er tun solle, und während er das Foto auf
den Bürgersteig legte und die Kamera einstellte, zeigte sie quer
über die Straße. »Das ist der Tatort.«
»Du sprichst immer noch von …«
Sie nickte. »Genau da, an der Ecke zwischen Sveaväg und
Tunnelgata, wurde Olof Palme am Freitag, dem 28. Februar
1986, um 23.21 Uhr erschossen.«
Sie zeigte auf etwas, das an eine Tunnelöffnung erinnerte, und
auf zwei Treppen, die zur Anhöhe dahinter hinaufführten. »Da
hinauf verschwand der Mörder, der nie entlarvt wurde.«
Auf der linken Straßenseite lag ein Farbenhandel mit dem
Namen Dekorima, und auf der rechten signalisierte das runde
Schild mit dem blauen ›T‹ einen U-Bahn-Eingang. An beiden
Hausfassaden zum Sveaväg leuchtete der Name eines der
größten Versicherungsunternehmen der nordischen Länder,
ohne daß es irgend etwas geändert hätte.
»Er liegt direkt hier oben, bei der Adolf Fredriks Kyrka.«
»Und du meinst also, mit ihm sei auch die schwedische Sozialdemokratie ins Grab gegangen?«
»Es ging jedenfalls eine Unschuld verloren, die Vorstellung,
daß so etwas bei uns nicht geschehen könnte. Wir wissen doch
alle noch, wie uns seinerzeit der Mord an Kennedy schockiert
hat. Das war etwas Ähnliches. Eine brutale Art, uns die Augen
zu öffnen. Wir glaubten, so etwas könnte hier nie geschehen, in
unserem friedlichen Jedermannsland im Norden. Aber das konnte es. Die Welt hatte uns eingeholt. Stockholm wurde unser
Dallas. In gewisser Weise ist die Stadt selbst die Mörderin, so
gefühllos, wie sie ist.«
»Hätte es nicht auch in Oslo passieren können?«
»Es hätte in jeder x-beliebigen modernen Großstadt passieren
können, in der die Macht sitzt.«
Wir betrachteten mit düsteren Mienen
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