Begrabene Hunde schlafen nicht
sehr dünn besetzt.
Ich ließ den Blick über sämtliche Insassen schweifen, sah aber
kein Gesicht, das etwas anderes verriet als Reisefieber oder
Resignation.
Ich sah auf die Uhr. In fünf Minuten sollte der Zug abfahren.
Um ihn nochmals zu beruhigen, sagte ich: »Ich mache eine
Runde durch den Rest des Zuges, für alle Fälle. Okay?«
Er sah genauso dankbar aus wie zuvor in der Cafeteria, als ich
ihm das Frühstück spendiert hatte. Und ich kam mir vor wie der
Sicherheitsbeamte eines amerikanischen Präsidentschaftskandidaten auf Wahlkampfreise.
Ruhig ging ich von Waggon zu Waggon, bis zur ersten Klasse
und den Abteilen für Behinderte oder Mütter mit kleinen
Kindern ganz hinten im Zug. Nirgends sah ich jemanden, den
ich wiederzuerkennen meinte. Ein paar Touristen verhunzten
laut die Namen der nächsten Bahnhöfe. Die anderen Dialekte,
die ich aufschnappte, deuteten darauf hin, daß die jeweiligen
Sprecher nicht viel weiter als ein Stück das Hallingdal hinauf
fahren würden.
Ich ging zu Mons Vassenden zurück und teilte ihm mit, daß er
sich entspannen und die Reise genießen könne.
Achtung an Gleis 3. Der Schnellzug nach Bergen ist abfahrbereit. Achtung an Gleis 3. Der Schnellzug nach Bergen ist
abfahrbereit.
Ich verabschiedete mich schnell. Als ich auf den Bahnsteig
trat, lautete die letzte Meldung: Bitte einsteigen! Türen schließen! Der Schaffner blies in seine Pfeife und winkte mit seinem
Fähnchen. Auf die Sekunde genau setzte sich der Zug in
Bewegung: ein kleines Stück Norwegen auf dem Weg nach
Bergen. Mons Vassenden starrte mich durch die Fensterscheibe
melancholisch an. Er ähnelte einem kleinen Jungen, der zum
erstenmal auf dem Weg in ein Ferienlager ist und überhaupt
keine Lust darauf hat. Hilflos hob er die Hand zu einem letzten
Gruß an die Mutter.
Dann verschwand der Zug im Tunnel, der ihn unter Oslo
hindurch und auf die andere Seite führen sollte.
Ich folgte der Rolltreppe hinauf in die Wartehalle, die ich
langsam durchquerte, in Gedanken an frühere Zeiten. Auf
meinen Lippen klebte ein Name wie eine fast dreißig Jahre alte
Briefmarke.
»Merete«, schmeckte ich vorsichtig den Wert der Marke, ohne
rechte Überzeugung. Es war wie ein Land, das es nicht gab und
von dem ich nur noch ungültiges Kleingeld besaß.
6
Es war zu der Zeit, als ich so tat, als würde ich in Oslo studieren,
in dieser Stadt, die niemand verläßt, ohne daß sie ihm ihren
Datumsstempel aufgedrückt hat. Bleibt man zu lange, verwelkt
man.
In der Stadt mit dem großen Herzen ist Platz für alle. Das muß
der Grund dafür sein, daß es dort immer so eng ist.
Ich wohnte in einem Zimmer in der Stockfleths Gate, nicht
weit von der Sagene-Kirche. Die Wohnung war ungefähr so
groß wie eine Speisekammer, und ich höre noch immer das
Geräusch der Mäuse, die hinter dem Holzpaneel hin und her
huschten, auf der Suche nach den Lebensmitteln, die es dort
einmal gegeben hatte.
Die Wirtin mochte Bergenser noch weniger als Nordlendinger,
aber sie ließ Gnade vor Recht ergehen, weil ich ihr von ihrer
Schwester empfohlen worden war, einer Freundin meiner
Mutter aus Bergen.
Die wenigen Male, die ich hereinschaute, meistens um die
Miete zu bezahlen, versteckte sich der Wirt hinter der Morgenpost, so hartnäckig, daß ich nach ein paar Monaten vergessen
hatte, wie er aussah.
1964 war ein witziges Jahr, das wie eine Art Jolle im Kielwasser der fünfziger Jahre schwamm. Nach dem Kubakrieg und
dem Mord an Präsident Kennedy war das Gleichgewicht
wiederhergestellt. Die USA wählten Lyndon B. Johnson mit
überwältigender Mehrheit zum Präsidenten. In der Sowjetunion
stellten sie Chruschtschow in den Schrank und holten Breschnjew und Kossygin samt Mottenkugeln aus der Schublade. Die
Beatles sangen, daß sie sich Liebe nicht kaufen konnten, und sie
hatten recht, wie immer.
Von September 1964 bis Mai 1965 wohnte ich in Oslo. Der
Grund hieß Anne, aber sie fand einen anderen, lange bevor ich
mich eingelebt hatte. Die Entschuldigung für meine Anwesenheit hieß Juristische Fakultät, aber die einzigen Gelegenheiten,
da ich sie von innen sah, waren, wenn ich meinen Studienausweis abstempeln ließ, um mein Studiendarlehen ausbezahlt zu
bekommen. Der größte Teil ging über die Kneipen im Stadtzentrum an den Staat zurück.
In einem dieser Lokale lernte ich einen Typen aus Frogner kennen, der Svend hieß. Er abonnierte die Anders Lange Avis * ,
hatte an einem Sommerkurs für junge Länge-Anhänger in
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