Begrabene Hunde schlafen nicht
Petersilie.
»Also das nennt man Dinner? Und wie nennt ihr euer Abendessen?«
Svend und die kleinen Mädchen lachten entzückt; noch nie
hatten sie östlich der Berge etwas Witzigeres gehört. Und man
war nicht zimperlich mit dem Rotwein in dieser Gegend, sowohl
was Qualität als auch was Quantität anging.
Zum Dessert, einem Obstsalat, der nicht nur in einer Zuckerlache gelegen hatte, bekamen wir Portwein in kleinen gedrungenen Gläsern, die wie rundliche Marktfrauen aussahen. Alles in
allem war es wahrscheinlich die beste Mahlzeit, die ich bis
dahin zu mir genommen hatte. Und auch in den Jahren danach
bekam ich nichts Besseres.
Aud und Svend räumten den Tisch ab und brachten die Reste
in mysteriöse Gemächer, wo sich eine unsichtbare Dienerschaft
oder der nächste Tag um den Abwasch kümmerte. Dann kamen
sie zurück mit Ingredienzen für long drinks. – »Wie lang soll’n
se’n sein?« fragte ich, um nochmals meine proletarische
Herkunft zu unterstreichen. Das Lachen wollte kein Ende
nehmen.
Der Rest ist verschwommen.
Wir redeten. Über Literatur.
Wir tanzten. Und es wurde warm.
Plötzlich waren wir allein.
Ich erinnere mich daran, daß wir auf einem blauen Sofa saßen.
»Es fühlt sich an, als säßen wir auf einem Floß«, sagte ich.
»Schaukelt es bei dir auch so?« fragte sie. Ich hatte ihr das
Kleid bis über die Knie hochgezogen und streckte vorsichtige
Fühler aus zwischen den Strapsen und ihrem Hüfthalter, wie
Pfadfinder im Niemandsland. Mein Hemd hing aus der Hose,
und sie hatte die Hand auf meiner Brust.
Ich erinnere mich an ihr Kleid an meinem Nacken und an den
Geruch von Parfum. Daran, wie der Hüfthalter geöffnet wurde,
ein eindrucksvolles Stück Arbeit. Schenkel, die sich öffneten,
mit wohlerzogenem Widerwillen. Eine Seeanemone, die nach
ihrer Beute schnappte. Eine Muschel ohne Perle mit dem
Geschmack von Meer. Und nach einer Weile ein stilles Erdbeben. Sehr still! Sie kam mit einem winzigen Knicks in den
Knien, wie sie es in der besten Tanzschule der Stadt gelernt
hatte.
Ich zog die Kapuze über den Kopf und schwamm ins Tiefe.
Um uns herum klirrte der ganze Raum von Kristall. »Sei
vorsichtig mit – dem Kleid!« sagte sie zuerst. Und danach: »Paß
auf, daß du keine Flecken machst …«
Ich hielt sie fest, während ich ihr die Schminke vom Gesicht
schleckte. Da erst entdeckte ich, wer sie war: ein kleines
Mädchen, allein im Wald, viel zu weit weg von zu Hause.
Schließlich saßen wir in einem Taxi, unterwegs einen der
Hügel hinauf. Ich bekam einen Zettel mit ihrer Telefonnummer,
und bevor sie aus dem Auto stieg, sah sie mich lange an und
sagte: »Rufst du an?« Und ich sagte: »Ja.«
Dann küßte sie mich auf die Wange und stieg aus. Das Haus
dort oben war aus Stein und trug Spuren von wildem Wein in
einem braunen Muster vom Boden bis zum ersten Stock.
Ich fuhr noch zwei Kurven mit dem Taxi wieder hinunter, bat
den Fahrer zu halten, gab ihm mein restliches Geld und ging den
Rest des Wegs zu Fuß.
Noch viele Jahre lang hatte ich Oslo so in Erinnerung: eine
Stadt im Morgendunst, Anfang April, mit Frost und Vogelgesang in der Luft, einer Sonne, die wie ein goldener Widerschein
zwischen den Bäumen stand, in einer Welt von Villengärten und
Verandas, wo der Tag eine hellblaue Straßenbahn ist, die sich
langsam in Bewegung setzt, irgendwo draußen bei Jar. Und mit
dem Geschmack vergessener Küsse auf der Zunge.
Denn als ich ein paar Tage später anrief, nahm niemand ab.
Und als ich das nächste Mal anrief, war eine Frau am Apparat.
»Ist Merete da?« fragte ich. »Mit wem spreche ich?« – »Äh,
hier ist Varg – Veum. Aus Bergen.« Nach einer kleinen Pause,
als müsse sie erst nachdenken, sagte die Frau: »Merete ist nicht
zu Hause.«
Svend sah ich auch nicht wieder.
Und im Mai fuhr ich zurück nach Bergen.
* Anders Lange, dem Begründer einer rechtsradikalen politischen Gruppierung, die Vorläufer der heutigen »Fremskrittsparti« war, herausgegebene
Zeitung.
7
Oslo ist eine bescheidene Hauptstadt. Die Hauptstraße zum
Schloß ist nach einem schwedischen Regenten benannt, und die
längsten Straßen weisen auf verwunderliche Weise aus ihr
heraus: Drammensvei, Trondheimsvei, Sørkendalsvei und
Strømsvei.
Das Zentrum Oslos besteht aus Querstraßen. Wenn du dich
nördlich der Karl Johans Gate verläufst, endest du auf St. Hans
Haugen oder in der Nordmark. Gehst du in die entgegengesetzte
Richtung, landest du im Meer.
Das Hotel, in dem ich ein
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