Begrabene Hunde schlafen nicht
Hansen?«
»Ich meinte, wenn sich herausstellen sollte, daß …«
»Wenn es sich herausstellen sollte, daß wir etwas Interessantes
finden, kann es sein, daß wir dich zu einem erneuten Verhör einberufen, Veum. Wenn nicht, hörst du hoffentlich nie wieder von
uns. Sollte dir etwas einfallen, das du vergessen hast, uns zu
erzählen, dann hab bitte keine Angst anzurufen. Aber dann
solltest du konkrete Informationen für uns haben, verstanden?«
Ich hatte verstanden. Sie war schärfer als ein Januarwind. Und
das Lächeln, das sie mir mit auf den Weg gab, kämpfte mit
starkem Gegenwind.
Hansen begleitete mich bis ganz nach unten und hinaus.
Die Sonne hatte das Seidenpapier, in das sie verpackt war,
noch nicht durchdrungen. Es war ein unverkennbarer Herbstgeschmack in der Lutt, bitter wie Vogelbeeren und süß wie
Salpetersäure.
Ich ging Grønlandsleiret entlang in Richtung Zentrum. In die
Urtegate ging ich nicht. Und ich sah auch keine roten Ford
Escords.
Zwischen der Vaterlands Bru und dem Lilletorg traf ich wieder auf etwas, das an einen Demonstrationszug erinnerte. Es
stellte sich als muslimische Prozession heraus, geprägt von
Feierlichkeit und einer Art demonstrativer Freude.
Ganz vorn trugen zwei Männer ein grünes Banner mit einer
weißen Aufschrift in Arabisch und Norwegisch: DER GEBURTSTAG DES PROPHETEN MOHAMMED. – Weiter
hinten folgten weitere Banner, einige in Arabisch, andere in
Norwegisch. Auf einem stand: ISLAM – DER WEG ZUM
FRIEDEN AUF ERDEN.
Männer jeden Alters, von weißbärtigen Patriarchen bis zu
Schuljungen, sangen mit Kopfstimme religiöse Lieder. Sie
trugen ihre schönsten Kleider, und es war nicht eine einzige
Frau unter ihnen.
Eine kleine Anzahl Norweger blieb auf dem Bürgersteig
stehen und betrachtete sie, als seien sie eine Art verspäteter 17.Mai-Zug am Tag danach, ein Kinderzug, der den Bus verpaßt
hat.
In der Stenersgate bog der Zug nach rechts in die Lybekkergate ab. Ich selbst ging geradeaus weiter zum Hauptbahnhof und
zum nächsten Telefonbuch.
Aud Finstad wohnte in Nesoddtangen. Es erschien mir klüger,
sie nicht anzurufen und anzufragen, ob sie oder ihr Mann Gäste
empfingen.
36
Die Fähre nach Nesoddtangen fuhr von Aker Brygge ab. In
vielerlei Hinsicht war es die perfekte Art, Oslo zu verlassen. Im
Sommer konnte man oben an Deck sitzen, in der letzten Ausgabe der Tageszeitung blättern und den Sonnenschein genießen,
während die Stadt hinter einem zu einer schmalen Silhouette auf
einer flachen Postkarte schrumpfte. Im Winter konnte man in
den Aufenthaltsraum hinuntersteigen, mit einem zufälligen
Mitpassagier ein Gespräch anzetteln, die gleiche Zeitung lesen
und auf diese Weise Autoschlangen und Verkehrsstaus entgehen.
An diesem Septembersonntag war der Himmel weiß, das Meer
grau. Die einzigen Passagiere außer mir waren eine Familie auf
dem Weg zu einem Sonntagsessen bei Oma und Opa, ein junger
Mann mit einem Strauß Blumen in der Hand und einem Anflug
von schlechtem Gewissen im Gesicht und eine sehr müde Frau
Anfang Vierzig, so müde, daß sie kaum die Augen öffnete, bis
wir am Kai anlegten.
Nesodden erhob sich in bedächtigem Profil, mit freundlich
gedämpften Farben in dunstigem Licht, wie eine Art distanzierter Idylle, wahrscheinlich infolge des angenehmen Abstands zur
Stadt.
Aud und Bjørn Finstad wohnten in einem braunen Krähenschloß unten am Wasser, diskret versteckt hinter einer hohen
Hecke und einer Holzpforte, die schrie, als ich sie öffnete, als
sei es seit langem das erste Mal. Vor dem Haus führte ein
abgenagter Rasen zum privaten Strandstück. An einem morschen Holzsteg lag ein poröses Ruderboot sicher vertäut,
allerdings mit dem Hinterteil unter Wasser. Das Haus sah
dunkel und unbewohnt aus.
Der Haupteingang lag auf der Nordseite. Ich stieg eine kleine
Treppe hinauf. Das Schild neben der weißen Tür verkündete: Finstad. Ich drückte auf einen Klingelknopf inmitten einer
altmodischen Metallrosette.
Es verging ungefähr eine Minute, dann wurde ein Fenster im
ersten Stock einen Spaltbreit geöffnet. Ein ovales Frauengesicht
spähte heraus, mit trockenen, mageren Zügen und so straff
frisiertem dunklem Haar, daß es an einen Ebenholzrahmen
erinnerte.
»Ja?« sagte sie mit flacher, tonloser Stimme.
»Mein Name ist Veum. Spreche ich mit Aud Finstad?«
Sie sah aus, als müsse sie erst überlegen. »Ja.«
»Thorbjørn Finstad, ist er zu Hause?«
Erneute Denkpause. »Er wohnt hier nicht mehr.«
»Ja, das
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