Begrabene Hunde schlafen nicht
anrufen, die wollen oft – die wollen
keine Bilder mehr von dir machen. Alles, was sie wollen, ist
eine zum Vorzeigen. Eskorte, was du willst, aber immer noch
eine Barbiepuppe, immer noch eine, die tut, was der Fotograf
sagt – zieh dich aus, leg dich so hin, die Beine auseinander, das
Kinn hoch. – Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
Mit einem klirrenden Geräusch schenkte sie sich Sherry nach.
Mir bot sie keinen an. »Die Mädchen, die dem Druck nicht
gewachsen sind, fallen aus der Rolle und enden als Prostituierte,
zuerst in der Topklasse, aber später geht es schnell abwärts. Ich
bin rausgekommen. Ich traf einen Norweger in einer Bar und
fuhr mit ihm nach Hause – nach Oslo.«
»Thorbjørn Finstad?«
Sie hob ihr Glas auf meinen Scharfsinn. »Das war Thorbjørn,
ja. Beim Tiefseefischen in Londons Rotlichtviertel. Und er bekam mehr an die Angel, als er erwartet hatte.«
»Ihr habt geheiratet?«
»Ungefähr ein Jahr später. Ich wurde wieder richtig aufgemöbelt, war noch jung und präsentabel, eine Frau, die man zu Premieren mitnehmen konnte, in die Oper oder ins Nasjonalteater,
wo er, du wirst es kaum glauben, nach einer halben Stunde
grundsätzlich einschlief, so sehr interessierte es ihn.«
»Und …?«
»Und …?«
»1987. Was passierte da?«
»Was weiß denn ich?«
»Das dachte ich nun wirklich! Du hast vor Gericht als Zeugin
ausgesagt.«
»Ich war so … Diese Jahre sind so – weit weg … Noch weiter
als – 1965, oder wann?«
»Was ist passiert?«
»Mit uns?«
»Ja.«
»Wir haben 1974 geheiratet. Im Laufe der Achtziger ging die
Emaille flöten. Die Abnutzung wurde – sichtbarer. Ich …« Sie
wedelte mit der Hand vor dem Glas herum, wie um ein aufdringliches Insekt zu verscheuchen. »… begann, mich zu –
betrüben – ich meine, ich war so betrübt – ich begann, mich zu
betäuben – mit – so was.«
»Du begannst zu trinken, wolltest du sagen?«
»… ja! Ich dachte – es war besser, als zu er-er … Du verstehst
schon. Alsssssso … Mit anderen Worten … Ich erinnere mich
nicht mehr an viel aus den Jahren.«
»Aber du mußt dich doch daran erinnern, daß du mit
Solbacken – daß ihr ein Verhältnis hattet!«
»Wir – hatten kein Verhältnis.«
»Aber … Er hat doch diese Fotos von dir gemacht – sie wurden dem Gericht vorgelegt.«
»Ich hab’s doch schon gesagt! Da waren so viele Fotografen,
einer mehr oder weniger … Aber Thorbjørn war dabei.«
»Thorbjørn war wo dabei?«
»Als die Fotos gemacht wurden.«
»Als die Fotos gemacht wurden?«
»Ja. Und es war nicht derselbe Fotograf. So weggetreten war
ich denn doch nicht – es waren trotz allem ziemlich – persönliche – Fotos, aber wenn Thorbjørn wollte, dann …«
»Warte mal. Es war nicht derselbe Fotograf, sagst du?«
»Nicht derselbe wie in der Zeitung. Auf den Fotos in der
Zeitung. Der, den Thorbjørn … Pål Helge Solbakken.«
»Aber wann wurden …«
Sie starrte mich aus großen, verschreckten Augen an. Die Pupillen waren wie Stecknadelköpfe, und ich konnte das Blut
durch die Adern seitlich an ihrem Hals pulsieren sehen. »Es war
an dem Tag bevor – die Polizei kam und – Thorbjørn mitnahm.«
»Am Tag vorher! Aber der Mord geschah am Dienstag, und
dein Mann wurde zwei Tage später verhaftet, am Donnerstag –
dann müssen die Fotos nach dem Mord aufgenommen worden
sein! – Am Mittwoch?«
»Müssen sie das?« fragte sie in einem Tonfall, als diskutierten
wir über die Farbe von Gardinen, die sie sich eventuell kaufen
wollte.
»Hör zu, Frau Finstad – Aud …«
»Ja?«
Sie war einmal eine markante Schönheit gewesen, eine kühle
Sylphide, im April 1965, und ich sah sie vor mir, wie sie damals
war. Durch all die Jahre der Abnutzung, durch die Schichten
von Patina, die die Zeit auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte,
erkannte ich sie wieder, wie ich Merete wiedererkannt hatte, so
daß ich mir jetzt noch sicherer war, daß es tatsächlich Merete
Sjøwold war, die ich getroffen hatte.
»Sag mal, wer war damals der Anwalt deines Mannes, 1987?«
»Der Anwalt meines Ma … Hellesø, oder – hieß er nicht so?«
37
Auf der Fähre zurück in die Stadt versuchte ich, die neuen
Mosaiksteine, die sie mir gegeben hatte, mit den alten zusammenzusetzen. Aber ich war noch nicht in der Lage, ein Muster in
dem Ganzen zu erkennen, abgesehen davon, daß eine ständig
wachsende Gruppe von Menschen in einen ständig wachsenden
Komplex von Kriminalfällen verwickelt war, von 1987 bis
heute. Fälle,
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