Behalt das Leben lieb
Gerrits lautes Geschnarche. Später dann schlürfende Schritte auf dem Korridor. Stimmen, Geraschel von Papier, das um Blumen und Süßigkeiten gewickelt war, kündigten die Besuchszeit an. Dann kam Mutter, manchmal mit Oma, manchmal mit Annemiek.
»Wer ist der unsympathisch aussehende Mann mit den langen Haaren und dem Bart?«, hatte Oma einmal flüsternd gefragt. Oma hatte etwas gegen Langhaarige.
»Der gehört nicht hierher«, hatte Beer geantwortet.
»Doch, Junge. Er liegt ja dir gegenüber. Links in der Ecke.«
Jetzt erst hatte Beer begriffen, dass Oma den Studenten gemeint hatte. Das verwirrte Beer, denn er hatte sich den Studenten ganz anders vorgestellt. Und wieder wurde ihm bitter bewusst, dass die Menschen in ihrem Urteil über andere so unbesonnen vom Äußeren ausgingen: von einem Bart und langem Haar, von einem vornehmen grauen Anzug, von einem zu kurzen Kleid. Nach einem Rollkragenpullover, einem schönen Ring oder einem Oberhemd mit Krawatte wurdenMenschen gleich in bestimmte Schubfächer gesteckt. All diese Äußerlichkeiten zählten nicht mehr, wenn man keinen Schimmer sehen konnte.
»Der Student ist hier mein allerbester Freund«, hatte Beer gereizt geantwortet.
Und weil er spürte, wie Oma darauf zu Mutter hinsah, hatte er noch spitzer hinzugefügt: »Und er hat nur noch ein paar Wochen zu leben.«
Die Morgen, die Mittage, die Abende und die Nächte reihten sich gleichmäßig aneinander. Doch die Tage verrannen nicht mehr. Dazu war in Saal 3 zu viel geschehen, was Beer tief berührt hatte. Da waren zuallererst die Gespräche mit dem Studenten, der sein Bestes tat, um Berend auf dem schwierigen Weg, der noch vor ihm lag, zu helfen. Nur ein einziges Mal ließ er erkennen, warum er das so wichtig fand:
»Ich möchte so gerne, dass etwas von mir in dir weiterlebt.«
Was dies betraf, hatte Beer ihn vollkommen beruhigen können. Dann war da die wachsende Freundschaft zu dem sonderbaren, rauen Gerrit, der trotz seines großen Mundwerks doch ein weiches Herz besaß. Es war rührend, mit welcher Sorge er Beer umgab.
»Schwester«, sagte er einmal zu der ziemlich strengen Schwester Ras. »Könnte Beer mich nicht einmal in einem Rollstuhl herumfahren? Dann würde ich mal was anderes sehen als immer nur Cruyff, den Bäcker und den Bartaffen in der Ecke.«
Schwester Ras hatte einen Rollstuhl geholt und Gerrit unter großem Gelächter hineinbugsiert.
»Und jetzt schieben, Beer. Der Blinde, der den Lahmen geleitet.«
Sie fuhren auf dem Korridor von einem Ende zum anderen und hatten eine Menge Spaß. Plötzlich sagte Gerrit mit geheimnisvoller Stimme: »Stopp, Beer, und ein Stück zurück. Dreh mal nach rechts. Noch ’n bisschen. So, ja, und jetzt langsam vorwärts, und leise.«
Beer schob den Rollstuhl vorsichtig weiter.
»Etwas nach links«, flüsterte Gerrit fast unhörbar.
Was hatte er vor?
Sie mussten jetzt ganz nahe bei der Küche sein, dachte Beer. Er hörte, dass Tassen auf Untertassen gestellt wurden. Ein Wasserhahn lief. Und dann hörte Beer die erstaunte Stimme von Schwester Ria: »Heh, was wollt ihr denn hier?«
»Schieb, Beer. Bis es nicht mehr weitergeht.«
Beer machte noch zwei Schritte.
»Hey, stopp!«, rief Schwester Ria nervös lachend. War sie in der Ecke eingeklemmt?
»Mach jetzt mal deine Ohren dicht, Beer«, murmelte Gerrit heiser. »Ria, kommst du mal her?«
»Das . . . Nein, Gerrit, lass mich los!«
Beer hörte Schwester Rias Füße und das Geräusch der gestärkten Schürze. Dann schien es Beer, als habe Schwester Ria das Gleichgewicht verloren und sei auf Gerrits Schoß geplumpst.
»Nein, Gerrit. Das gibt es ni. . .« Schwester RiasStimme wurde erstickt und der Grund war nicht schwer zu begreifen. Dann eine ziemliche Stille. Beer hörte nur den Kessel, der auf dem Gas stand und dampfte. Der Rollstuhl unter seinen Händen wackelte richtig.
»So«, flüsterte Gerrit und seufzte zufrieden. »Das war der Erste, aber nicht der Letzte!«
Sahen sie sich an? Küssten sie sich wieder? Gespannt wartete Beer darauf, was Schwester Ria sagen oder tun würde. Musste man nicht erwarten, dass sie wütend war und Gerrit eine Ohrfeige gab? Das geschah glücklicherweise nicht.
»Aber Gerrit«, sagte sie leise, doch ihre Stimme klang nicht böse. Im Gegenteil.
Sie stand wieder auf den Füßen. Strich sie ihre Kleider glatt? »Ria, übers Jahr krieg ich mein eigenes Schiff. Einen Lastkahn. Und da kommst du drauf!«
»Du bist verrückt!«
Gerrit lachte beinahe so froh wie ein
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