Behalt das Leben lieb
Kind. »So, Beer, jetzt retour. Wieder auf den Korridor zurück.«
Mit der einen Hand zog Beer den Rollstuhl hinter sich her, mit der anderen tastete er sich zur Tür.
»Nee, Bengel, bisschen mehr nach links«, rief Gerrit übermütig. Und dann sagte er warmherzig und überzeugend: »Ria, es ist ein fantastisch schönes Leben auf einem eigenen Schiff.«
In Gedanken sah Beer Schwester Ria mit kräftigen Armen am Ruder eines Lastkahns stehen –und der Schiffer hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt.
»Beer, denk dran«, flüsterte Gerrit, als sie wieder auf dem Korridor waren. »Du hast nichts gehört und nichts gesehen.«
»Nein, ich hab wirklich nichts gesehen«, schmunzelte Beer und es war das erste Mal, dass er über seine Blindheit einen Scherz gemacht hatte. Das gab ihm ein befreiendes Gefühl. »Gut so, Junge. Fahr mich jetzt zurück in den Saal. Dann wollen wir Junker Cruyff ’n bisschen aufziehen.«
Später, als er wieder im Bett lag und Hilversum III hörte, sagte sich Beer, dass sowohl der Student als auch Gerrit ihm ein sehr persönliches Geheimnis anvertraut hatten. Und er fragte sich: Hätten sie das auch getan, wenn ich noch sehen könnte . . .?
Endlich, endlich kam ein Morgen, der ganz und gar von einem einzigen kleinen Satz des Arztes erfüllt war. Der Arzt hatte den Verband gelöst und sich die gut heilenden Wunden angesehen. Dann sagte er: »Gut, Beer, von mir aus kannst du morgen nach Hause.«
Nach Hause! Diese zwei Worte erfüllten Beer durch und durch mit Freude. Doch kurz darauf kam ein Dämpfer. Wie sollte, wie konnte er dem Studenten diese Neuigkeit beibringen?
4
Lieber Himmel, dachte Beer, als Vater und Mutter ihn mit einem Taxi abholen kamen. Er wusste nicht recht, wie er mit der neuen Situation fertigwerden sollte.
Nun war der schwierige Augenblick des Abschieds gekommen. Abschied von Schwester Wil, Abschied von den anderen Krankenschwestern und Abschied von Saal 3. Das griff ihn mehr an und berührte ihn tiefer, als er es für möglich gehalten hätte. So ein Abschied ging einem doch verdammt nah. Schwester Wil gab ihm einen Kuss und drückte ihn an ihre sanfte, unverletzte Wange: »Versprich es mir, Beer, Kopf hoch. Sobald es geht, besuch ich dich mal.«
Dann Abschied von Saal 3, mit dem elenden Gefühl, dass man lieb gewordene Freunde im Stich lassen musste. Mühelos fand Beer den Weg zu den Betten und streckte seine Hand erst dem Bäcker, dann dem Junker entgegen: »Alles, alles Gute. Und auf Wiedersehen!«
Erst als er dieses Auf Wiedersehen automatisch vor sich hin gesagt hatte, wurde ihm bewusst, wie dumm es klang.
Gerrit hatte natürlich die nötigen Späße auf Lager. Doch das, was er zuletzt sagte, klang ernst: »Mein lieber Beer, du wirst mir sehr fehlen, Junge. Wer soll mich denn jetzt zur Küche fahren,wenn du nicht mehr da bist? Ria und ich werden dir eine Karte schicken – wenn es je so weit kommt.«
Über Beers Rücken lief ein Zittern, als er sich tastend den Weg in die Ecke des Studenten suchte. Der Student hatte nicht in seinem Bett gelegen, sondern an der Tür auf ihn gewartet.
»Danke . . . Danke für alles . . .!«
Beer hätte ihm so gern noch viel mehr sagen wollen, aber er brachte kein Wort mehr über seine zitternden Lippen. Glücklicherweise machte es auch der Student kurz: »Tschüss, Beer. Behalt das Leben lieb. Und mach was draus.«
Beer hatte genickt.
»Mach’s gut, Beer.«
»Du auch. Du auch!«
Zwischen Vater und Mutter die langen Korridore des Krankenhauses entlang zum Ausgang. Eine unbeholfene Stolperpartie in der großen Drehtür, worüber Mutter ziemlich erschrak. Dann in das Taxi, das draußen wartete.
»Fahren wir also«, sagte Vater.
»Ja, fein!«, sagte Mutter.
Der Wagen fuhr an. Sie nahmen die erste, unsichtbar gewordene Kurve. Das Krankenhaus – das Wartezimmer des wirklichen Lebens – gehörte schon der Vergangenheit an. Was war in wenigen Wochen nicht alles geschehen. Beer hatte das Gefühl, dass er nun endgültig Abschied genommen hatte von dem sportlichen, unbekümmerten Jungen, der er früher gewesen war. Er warnicht etwa ganz plötzlich erwachsen. Aber ein Stück seiner Jugend hatte er für immer verloren.
Die Fahrt nach Hause wuchs sich zu einem wahren Schrecken aus. Es berührte Beer viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte, dass sie nun durch vertraute Straßen fuhren, die er nicht sehen konnte. Geräusche des unsichtbar gewordenen Verkehrs. Unsichtbare Menschen auf den Bürgersteigen. Unsichtbare
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